Der Bierdeckelweitwurfmeister

Ekstatisch wälzte sich August um 3 Uhr nachts immer noch im Bett und konnte nicht einschlafen. Nachdem er am späten Nachmittag die Wiener Bierdeckelweitwurfmeisterschaften nach einem sehr spannenden Endspiel gegen seinen altbekannten Gegner Stanislaus knapp gewonnen hatte, hatte er noch bis nach Mitternacht mit seinen Vereinsfreunden ausgelassen gefeiert. Nachdem es beim Zeitpunkt des Heimkommens noch zu aufgekratzt für die Nachtruhe gewesen war, hatte er sich noch ein bisschen Bier aus dem 10 Liter Fass, das er gewonnen hatte, gegönnt. Immer wieder ließ er seinen weitesten Wurf Revue passieren. Der Bierdeckel hatte sich in seiner Hand so balanciert angefühlt, dass er gleich wusste, dass es ein guter Wurf werden würde. Gekonnt hatte er ausgeholt und genau den richtigen Flugbahnwinkel erwischt, dass dieser Deckel beinahe 10 Zentimeter weiter gesegelt war als sein bester Versuch davor. Beim letzten Wurf hatte er also noch den Gegner abgefangen und die begehrte goldene Bierdeckeltrophäe nach Hause geholt. Nach dieser hervorragenden Leistung sah er sich bereits am Podest der in wenigen Wochen in Innsbruck stattfindenden österreichischen Meisterschaften. Mit einem Grinsen am Gesicht schlief er dann doch in den frühen Morgenstunden ein und schnarchte genüsslich mit einer dezenten Bierfahne vor sich hin. 

Als er am nächsten Mittag aufwachte, konnte er sich nicht mehr an den vergangenen Tag erinnern. Schlaftrunken schleppte er sich zur Toilette und stolperte am Weg dorthin mehrere Male beinahe über seine eigenen Füße, weil er noch wackelig auf den Beinen war und sich der Gang zu drehen schien. Nach der erleichternden Tat beschloss er, dass er dringend ein Aspirin einwerfen und mit einem großen Glas kühlem Wasser hinunterspülen musste, um seinem maroden Körper wieder etwas mehr Leben einzuhauchen. In der Küche angekommen, stürzte er über ein Bein und schrie laut, noch bevor er unsanft auf dem Fliesenboden in Bambusoptik auftraf. Erst als er das Bein als das des Obmannes des Ersten Wiener Bierdeckelweitwurfvereins identifizierte, konnte er seine Angst abschütteln. Während der Trinkkumpan des vergangenen Abends genüsslich am harten Boden vor sich hinschnarchte, konnte August seinem Knie regelrecht beim Anschwellen zusehen. Um seine Kniescheibe entwickelte sich ein blau-rot-lila-farbener bamstiger Kreis und ein stechender Schmerz fuhr plötzlich in sein rechtes Handgelenk ein. Als er sich vom Schock erholt hatte, fing er an, laut über seinen ungebetenen Gast zu fluchen und versuchte erfolglos, sich wieder auf die Beine zu hieven. Schließlich brauchte er mittlerweile das Aspirin noch dringender als vor seinem unglücklichen Sturz. 

Nachdem sich der frisch gekürte Bierdeckelweitwurf-Landesmeister, der sich allerdings immer noch nicht an den glorreichen Abend erinnern konnte, endlich mühsam im Schneckentempo und mit einem schmerzverzerrten Gesicht aufgerichtet hatte, gab er dem jungen Mann einen unmotivierten Tritt. Dieser schien ihm jedoch mehr weh zu tun als dem bis aufs Schnarchgeräusch leblosen Mann. Er verlor beinahe das Gleichgewicht, als er sich wieder auf den verletzten Fuß stellen wollte und konnte sich gerade noch mit einem raschen Griff an eine Küchenschranktüre vor einem erneuten Sturz retten. Erleichtert holte er das Schmerzmittel aus dem Medikamentenkabinett und würgte es mit etwa einem halben Liter Mineralwasser mit viel Kohlensäure seinen trockenen Hals hinunter. Rülpsend humpelte er schließlich in Richtung seines Sofas, um sich dort bei einem netten Film etwas von seinem brummenden Kopf und seinen schmerzenden Gelenksverletzungen zu erholen. Als er um die Ecke zum Wohnzimmer, das gleich neben der Küche lag, bog, fand er einen weiteren Eindringling vor, der im Sitzen und das 10 Liter Bierfass umarmend eingeschlafen war. August ärgerte sich nicht nur, weil er sich jetzt nicht so wie geplant dort ausstrecken konnte, sondern noch viel mehr, weil er den Mann nicht kannte. Langsam erinnerte er sich jedoch wenigstens beim Anblick des Bierfasses, dass er nach der Meisterschaft wohl zu tief ins Glas geschaut haben musste und dass deshalb die ärgerlichen Erinnerungslücken entstanden waren. 

Resignierend legte er die zusätzlichen drei Meter bis zu seinem Ohrensessel zurück und ließ sich etwas unsanft fallen. Er hievte die maroden Beine auf den dazugehörigen Hocker und freute sich, dass er diesen nach langen Überlegungen doch gekauft hatte. Genau genommen hatte seine Mutter ihm die Möbel spendiert, aber in seinen eigenen Gedanken war er zu stolz, um sich dies einzugestehen. Nachdem er es sich bequem gemacht hatte und das Schmerzmittel endlich langsam zu wirken schien, griff er nach der Multifunktionsfernbedienung, um seinen 85 Zoll- Fernseher anzuwerfen. Obwohl die Melodie, die die Nachrichten immer einleitete, laut und penetrant war, schlief der unbekannte Eindringling neben ihm am Sofa immer noch genüsslich vor sich hin. Aus der Küche kamen immer wieder laute Schnarchgeräusche. Wie gerne wäre er nun mit sich uns seinen Schmerzen alleine gewesen. Wie hatte er nur nach dem grandiosen Triumph so abstürzen können. Gerade als er erfolgreich dabei war, sich innerlich in Rage zu reden, erschien am Bildschirm ein Bild des Bierfass-umarmenden Mannes, das beinahe größer war, als dieser selbst. “Wegen einem wichtigen polizeilichen Aufruf unterbrechen wir zu Beginn die Sendung. Wenn Sie Informationen zum Aufenthaltsort von Karlo Biczi haben, melden Sie sich bitte umgehend im Sinne der öffentlichen Sicherheit an die eingeblendete Polizeinotrufhotline.” August sah sich panisch um, während sein Herz langsam in die Hose sackte. 

(Fortsetzung HIER


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