Nach einem langen und nervenaufreibenden Arbeitstag saß Juliana kurz nach 17 Uhr endlich auf einem gemütlichen Fauteuil in ihrem Lieblingskaffeehaus und erfreute sich an den Geruchsnoten ihres bevorzugten Filterkaffees aus der Sidamo-Region in Äthiopien. Egal wie stressig es in der Arbeit gewesen war, alleine der Duft dieses wunderbaren koffeinhaltigen Getränks hauchte ihr immer wieder neues Leben ein. Oft fragte sie sich, warum sie nicht einfach ein Kaffeehaus aufmachte, anstatt sich jeden Tag von ihrem Chef und dessen noch unangenehmeren Stellvertreter traktieren zu lassen. Steuerberaterin war ohnehin nie ihr Traumberuf gewesen, sondern eher etwas, wo ihre Eltern sie hineingepresst hatten. Auf dem kleinen Beistelltisch daneben lag das neueste Buch ihres Lieblingsautors Wolfgang Schorlau, dessen Krimis mit Privatermittler Georg Dengler sie immer innerhalb weniger Tage nach der Veröffentlichung verschlang. Nachdem die Dame am Nebentisch so laut telefonierte, dass man sie im gesamten Lokal hören konnte, hatte sie das Buch weglegen müssen obwohl es wie immer schon von der ersten Seite an unglaublich spannend war. “Du, ich muss bald auflegen, Karin,” brüllte die brünette Frau, die für ein Hipster-Kaffeehaus viel zu elegant gekleidet war, in ihr Mobiltelefon. “Ich habe ja endlich ein Date mit dem charmanten Mitarbeiter des Finanzministeriums, den ich über Tinder kennengelernt habe. Ja natürlich werde ich dir gleich alles berichten.” Als sie das Gespräch endlich beendet hatte, war Juliana erleichtert, nahm genüsslich einen weiteren Schluck Kaffee und griff zum neben ihr liegenden Buch.
In dem Moment, als sie zum Umblättern ansetzte, sah sie aus dem Augenwinkel ihren Chef das Café betreten. Ihr Puls schnellte innerhalb von wenigen Sekunden auf 180. Schließlich hatten sie an diesem Tag schon wieder eine unnötige Auseinandersetzung gehabt, weil sie ihn angeblich in der Früh zu leise gegrüßt hatte. Warum verfolgte er sie nur bis in ihr Stammkaffeehaus? Sein Blick schweifte etwas verloren durch den Raum, bevor er dann zielsicher auf ihre Ecke zusteuerte. Juliana wurde noch nervöser und versuchte sich fieberhaft, hinter ihrem aufgeschlagenen Roman zu verstecken. Warum kaufte sie sich nur immer die Taschenbuch-Ausgabe? In dieser Situation würde ihr ein Hardcover-Buch viel mehr Schutz bieten. Während sie sich über sich selbst ärgerte, sprang die Frau neben ihr, die vorher so laut telefoniert hatte, hektisch auf und begrüßte ihr Date euphorisch: “Dietrich, schön dich endlich persönlich kennenzulernen.” Sie musterte ihn skeptisch und fügte hinzu: “Hattest du einen so stressigen Arbeitstag oder hast du auf Tinder ein älteres Foto hochgeladen?” Beide kicherten verlegen, setzten sich und bestellten jeweils einen Cappuccino.
Juliana war erleichtert, aber auch etwas verwirrt. Der Mann neben ihr war definitiv ihr Chef, aber er hieß eigentlich Heinz, leitete eine No-Name-Steuerberatungs-Kanzlei und war ihres Wissens weit davon entfernt ein Mitarbeiter des Finanzministeriums zu sein. Kurz überlegte sie, ob sie die Gelegenheit ergreifen sollte um zu flüchten, entschied sich aber dann doch zu bleiben. Schließlich war sie ein neugieriger Mensch und saß glücklicherweise mit dem Rücken zu ihrem Vorgesetzten. Vielleicht erfuhr sie ja nützliche Informationen, die sie gegen ihn verwenden konnte, wenn er sie wieder vor der gesamten Belegschaft zur Schnecke machte. Leider verstand sie nur Wortfetzen von dem, was ihr Chef seinem Date erzählte. Es schien, als ob er durch sein leises Sprechen den Lärmpegel seines Gegenübers versuchte auszugleichen. Juliana ärgerte sich, dass sie generell etwas schwerhörig war, und entschied sich nach kurzem Überlegen gegen einen zweiten Kaffee. Nachdem es schon fast Abend war, würde sie sonst vielleicht nicht einschlafen können. Es war definitiv die vernünftigere Entscheidung.
Die penetrante Stimme der Dame nebenan unterbrach wieder ihre Gedanken: “Und du bist wirklich immer mit dem Finanzminister in Brüssel? Faszinierend!” Juliana wusste nicht, ob sie weinen, lachen oder sich einfach nur an den Kopf greifen sollte. Krampfhaft versuchte sie doch noch ein paar Zeilen von dem Buch zu lesen, hinter dem sie sich noch immer dezent versteckte. “Dengler war unzufrieden mit sich. Das Telefonat mit Wittig hatte ihm klarer gemacht, als ihm lieb war, dass die Ermittlungen in einer Sackgasse steckten. Eilig trank er den Espresso aus, zahlte und verließ das Lokal.” Instinktiv griff sie nach ihrem Kaffee. Obwohl die Tasse schon so gut wie leer war, konnte sie mit Mühe noch etwa 3 Milliliter extrahieren. “Wegen dem stressigen Job hatte ich nie wirklich Zeit für eine Familie. Langsam bereue ich es aber,” erklärte ihr Chef gerade seinem Date, als Juliana sich endlich entschlossen hatte, doch den Heimweg anzutreten. Unbewusst stand ihr kurz der Mund etwas offen. Ihres Wissens hatte der Mann vier Kinder, zwei mit der ersten Frau und zwei mit der zweiten Frau. Im Büro blieb er nur länger als notwendig, wenn er vor der Familie flüchten wollte. Sie hatte genug gehört, stopfte ihr Buch wieder in die viel zu volle Tasche und verließ das Kaffeehaus hastig. An der frischen Luft normalisierten sich ihre Körpertemperatur und ihr Puls endlich wieder Trotzdem konnte sie noch immer nicht ganz begreifen, was sich gerade abgespielt hatte. War sie in einem falschen Film gelandet?
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