Waldemar hatte genug. Wenn er noch einen weiteren Tag eingesperrt mit seiner überdurchschnittlich gesprächigen Frau und dem großen Hund in seiner viel zu kleinen Wohnung verbringen würde, würde ihm noch die Decke auf den Kopf fallen. Die Corona Pandemie dauerte nun schon viel zu lange an, dachte sich der derzeit von zu Hause arbeitende Datenbankadministrator genervt, als er sich durch fünf Schichten altes Klumpert in seinem kleinen Kellerabteil zu seiner mittelalterlichen Skiausrüstung durchwühlte. Er war eigentlich kein besonders großer Fan des Nationalsportes, aber nachdem es eine der wenigen erlaubten Aktivitäten im Lockdown war, entschied er sich, der Freizeitbeschäftigung noch eine letzte Chance zu geben. Alles war schließlich besser, als noch einen weiteren Tag vor dem Fernseher zu versumpfen.
Eine Stunde später verstaute er sein Sportgerät sorgfältig im Kofferraum seines klapprigen Kombis und machte sich samt seinem halb angezogenen neonfarbenen Skioverall auf den Weg in das nächstgelegene Skigebiet unweit von St. Corona. Die Ironie ging nicht an ihm vorbei und er musste auch auf der Fahrt immer wieder wegen dem witzigen Ortsnamen schmunzeln. Obwohl das Wetter trist war und der Nebel ihm nur eine Sichtweite von weniger als 300 Metern genehmigte, saugte er befreit die stinkige Autobahnluft in seine Lungenflügel. Hauptsache raus aus der Wohnung, ertappte er sich beim Mit-sich-selbst-reden. Wie genügsam er in den letzten Monaten geworden war. Nachdem er und seine Frau sogar den alljährlichen Urlaub in Bodrum aus lauter Angst vor dem Virus in letzter Minute abgesagt hatten, kam er sich nun am Weg ins benachbarte Bundesland wie ein Entdecker auf Weltreise vor.
Je näher er dem Skigebiet kam, desto mehr lichtete sich die Nebelsuppe. Analog zur besser werdenden Sicht stieg auch seine Euphorie für die bevorstehenden Schwünge im frischen Schnee. Ob er in den letzten zwei Jahrzehnten wohl alles verlernt hatte? Kurz ärgerte er sich, dass er womöglich einen groben Schnitzer begangen hatte, weil er in der Aufregung komplett darauf vergessen hatte, die Skischuhe zu probieren, sah aber dann rasch ein, dass es bereits zu spät dafür war. Im schlimmsten Fall musste er entweder mit zu kleinen Schuhen leben oder gleich wieder den Heimweg antreten. Die Fahrt war kurzweilig, weil im Radio die Menschen von der alteingesessenen Astrologin über ihr Schicksal für das kommende Jahr informiert wurden. Waldemar redete sich zwar immer ein, dass er nicht an diese schwindligen Vorhersagen glaubte, hörte jedoch die gesamte Zeit mit vollster Aufmerksamkeit der beruhigenden Stimme zu, die aus dem Studio des Radiosenders über die Antenne in sein Kraftfahrzeug drang.
“Steinböcke müssen sich zu Beginn des Jahres wegen der Jupiter-Venus-Saturn-Kurve in Acht nehmen, sich nicht gleich vor lauter Euphorie zu übernehmen”, warnte die Astrologin die Inhaber dieses Sternzeichens. “Mit der Brechstange kann man in einem Jahr wie diesem, obwohl die Sternenkonstellation weit besser als im letzten Jahr ist, zumindest in den ersten Monaten wenig erreichen.” Waldemar, der Steinbock mit Aszendenten Fisch, musste schlucken. Ein so ein Blödsinn antwortete er dem leeren Beifahrersitz verunsichert. Zum Glück bog er gerade um die Ecke des Parkplatzes im Skigebiet, der schon recht voll war, und verlor beinahe das Heck seines behäbigen Vehikels. Er atmete erleichtert auf, nachdem er den Kombi unfallfrei in die letzte freie, viel zu enge Parklücke manövriert hatte. Es war definitiv Zeit für die Anschaffung neuer Winterreifen, vor allem wenn er öfter aus der Stadt flüchten wollen würde.
Wenig später stand er mit seinen etwas zu eng gewordenen Skischuhen und zwei übereinander geschichteten Mund-Nasenschutzmasken in der Schlange, um sich eine Tageskarte für das Skigebiet zu beschaffen. “Schau, da ist ein Zeitreisender aus den 80ern da”, mokierte sich ein Tiefschneesnowboarder mit sackigem Gewand und fehlender Maske scheinbar über das Outfit des Gelegenheitsskifahrers. Waldemar musste sich ärgern, aber die Euphorie über den Ausflug war noch größer als das Ärgernis. Obwohl viele Menschen angestellt waren, bewegte sich die Schlange halbwegs rasch in Richtung voll besetzter Kassenhütten und nach einer knappen Viertelstunde war er der Zweite in der Reihe. “Servus Charlie”, begrüßte ein Mann in teurer Ausrüstung den Mann an der Kassa. “Ich musste heute gleich raus aus dem Haus”, berichtete er dem Bekannten aufgeregt. “Ja, schließlich war ich bis gestern in Quarantäne wegen Corona.” Waldemar machte schockiert einen Schritt nach hinten und stieß mit einem älteren Herren zusammen, der gerade noch in letzter Sekunde seine Balance wiederfinden konnte. “Entschuldigung”, hauchte der Steinbock kaum hörbar durch seine Masken-Schichten.
Obwohl sein Blutdruck auf 300 geschnellt zu sein schien, entschied sich der Datenbankadministrator, sich nicht das Abenteuer vermiesen zu lassen, vor allem nachdem er schon so weit gekommen war. Nachdem er endlich die heiß begehrte Liftkarte ergattert und an seinem Overall angebracht hatte, suchte er sich einen ruhigen Platz zum Anschnallen der Bretter. Weil die Sonne seine Augen unangenehm kitzelte, beschloss er kurzerhand, die Skibrille zuerst anzulegen. Mit den zwei Masken und der überdimensionalen Brille war sein Gesicht fast ganz bedeckt und seine Identität war praktisch nicht mehr zu erkennen. So fühlte er sich vor dem Virus halbwegs sicher, dachte sich der Mann und atmete erleichtert aus. Seine Brille lief sofort komplett an, sodass er nicht einmal mehr seine überlangen Skier im Schnee erkennen konnte. Resignierend riss er den Sonnenschutz vom Gesicht und beschloss, ihn erst am Gipfel wieder aufzusetzen, wenn er die Masken abnehmen konnte. Der Skitag erwies sich bereits jetzt nervenaufreibender als erwartet.
Bald hatte er es geschafft, versuchte er sich mittlerweile leicht genervt selbst zu beruhigen. Wegen so kleinen Rückschlägen durfte er sich seine Vorfreude auf die bevorstehende sportliche Aktivität in der frischen Luft nicht nehmen lassen. Fein säuberlich richtete er sich seine Ski her, dass sie parallel unter seinem Körper für den Einstieg in die Bindung vorbereitet waren. Zuerst fixierte er den Zehenteil des rechten, geschäumten Skischuhs in der vorderen Verankerung und begann dann energisch den Fersenteil in die widerspenstige Bindung zu wuchten. Doch statt den ersten Ski angeschnallt zu haben, schoss dieser unkontrolliert nach hinten weg in die beim Lift angestellte Masse und Waldemar landete unsanft mit dem maskierten Gesicht im Schnee. Was war nur passiert, wunderte sich der cholerische Steinbock, während er sich mühsam trotz den Klötzen an den Beinen wieder in die Vertikale hievte. Auf der Suche nach der Ursache seines Hoppalas irritierten ihn sofort seine nassen Zehen. Verärgert stellte er fest, dass sein gesamter Vorderteil des rechten Schuhes beim Einsteigen in die Bindung weggebrochen war. Resignierend stapfte er durch den Schnee, barg seinen verunfallten Ski aus der Masse, stieg frustriert in sein Auto ein und schwor sich, die nächsten Tage lieber wieder in der Wohnung zu verbringen.
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