Der Innenschuh

Zuerst hörte ich Stimmen, dann wurde es plötzlich hell. Die Besitzer der Stimmen hatten schneller, als ich schauen konnte, das kleine Kellerabteil, in dem ich gemeinsam mit anderem Wintersportmaterial eingesommert war, aufgesperrt, die Türe energisch aufgewuchtet und fast simultan den Lichtschalter betätigt. Auch der neben mir gelagerte, befreundete Herren-Innenschuh, mit dem ich viele nette Stunden während der monatelangen Lagerung plaudernd verbracht hatte, musste sich erst an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnen. Ich konnte ein Rascheln vernehmen. Wahrscheinlich versuchte er sich gerade hinter der Skischuhtasche, so gut es ging, vor dem grellen Licht in Sicherheit zu bringen. Gute Idee, aber in der Eile konnte ich kein für mich erreichbares Versteck ausfindig machen. “Ich hoffe, mich haut es nicht gleich wieder bei der ersten Abfahrt über die Böschung”, witzelte meine Besitzerin, die überschwänglich nach mir griff und dabei fast über einen davonrollenden Polycarbonatkoffer stürzte. “Keine Sorge, ich freu mich trotzdem auf den Skitag”, fügte sie nun etwas mitgenommen hinzu. 

Nach den anfänglichen Schwierigkeiten packte die braunhaarige Frau die Skischuhtasche, nahm den Außenschuh aus der unteren Etage des Regals, zwickte mich etwas grob am Fersenteil und pferchte mich unsanft in die Schale. Dabei kam mir ein lautes “Aua” aus, aber niemand schien es gehört zu haben. Mein männlicher Innenschuhfreund wurde nämlich zur gleichen Zeit ähnlicher Folter ausgesetzt. Besonders an den Zehen verspürte ich unangenehme Druckstellen, aber auch am Knöchel passte ich nicht so ganz in die harte äußere Hülle. Die Prozedur war mir von der vergangenen Saison nicht so brutal in Erinnerung geblieben, aber vielleicht wurde ich auch nur alt und vergesslich. Schließlich war ich schon einige Jahre sporadisch im Einsatz, der eine Skitag da, der andere vereinzelte Skiurlaub dort. Im Großen und Ganzen war mein Dasein durchaus erträglich, denn nach getaner Arbeit konnte ich mich gemeinsam mit meinen lieb gewonnenen Kollegen von den Anstrengungen des Tages erholen. 

Wenig später wurde ich unsanft aus meinen Gedanken gerissen, als ich gemeinsam mit der anderen Skischuhtasche und zwei Skisäcken in den Kofferraum des viel zu kleinen Kraftfahrzeuges gepfercht wurde. Auch die Heckklappe des Autos landete zu allem Überfluss mit voller Wucht auf meinem Hinterteil. Na dieser Tag beginnt ja super, dachte ich mir und verzog vor Schmerzen meine Nähte. Erst als diese wieder nachgelassen hatten, kam mir der Gedanke, dass ich vielleicht unsachgemäß in den Außenschuh gesteckt worden war, also dass irrtümlich im Eifer des Gefechtes mein rechter Teil im linken Schuh und umgekehrt gelandet war. Voller Hoffnung freute ich mich also darauf, dass nach der Ankunft im Skigebiet dieser Schnitzer gleich korrigiert werden würde und schöpfte Hoffnung, dass der Tag nun besser werden würde. 

Die restliche Fahrt war unspektakulär. Zuerst pilotierte der Mann sich, die Beifahrerin und die Ladung gekonnt und mit für seine Verhältnisse wenigen Wutausbrüchen aus der stauanfälligen Stadt hinaus, dann surrte das Auto ruhig auf der Autobahn dahin. Erst auf der bergigen Zufahrtsstraße zum Berg mit vielen Serpentinen und Schlaglöchern wurde mir etwas übel. Immer wieder wurde ich gegen meinen Freund in der neben mir platzierten Skischuhtasche gedrückt, was ich sogar als beruhigend empfand. Manchmal erwischte mich jedoch auch der auf meiner anderen Seite platzierte Skisack und verpasste mir einen wuchtigen Schlag, der besonders an den Druckstellen schmerzte. Aber es musste langsam das Licht am Ende des Tunnels nahen, denn das Auto wurde langsamer und kam nach mehreren hektischen Manövern endlich zum Stillstand. 

Meine Transportverpackung wurde nun aus dem Kofferraum geholt und wieder blendete mich grelles Licht, als der Reisverschluss geöffnet und ein Schuh nach dem anderen motiviert herausgefischt wurde. Meine Besitzerin saß in voller Skimontur am Beifahrersitz und versuchte, mit aller Gewalt ihren angeschwollenen Fuß in mich hinein zu verfrachten. Zu meinem Entsetzen hatte sie nicht einmal kontrolliert, ob meine korrekte Seite jeweils der dazugehörigen Außenschale zugeordnet war. Sie zog brutal an der Zunge und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf mich drauf. Dies wurde von unentwegten Beschwerden begleitet: “So ein Dreck. War der Schuh immer schon so eng und unangenehm? Ein so ein Fehlkauf. Ich glaub, den hast du mir damals eingeredet.” Der Mann versuchte sie zu beruhigen: “Das ist sicher nur, weil du jetzt länger nicht auf den Skiern gestanden bist. Du gewöhnst dich bestimmt bald wieder daran. Außerdem muss ein Skischuh relativ eng anliegen, sonst hast du die Bretter ja nicht unter Kontrolle.” 

Warum merkte die Frau nur nicht, dass da etwas nicht stimmte? Sie musste entweder indolent oder von jeglichem Feingefühl befreit sein. Als ihr der Mann nach mehreren gescheiterten Versuchen half, den Schuh anzulegen, gab ich wieder schmerzverzerrte Laute von mir, die aber im regen Treiben des gut besuchten Parkplatzes versiegten. Mit aller Kraft versuchte ich weiterhin, das Anziehen zu verhindern, in der Hoffnung, dass doch noch die Platzierung des Innenschuhes überprüft werden würde. Plötzlich gab es einen Schnalzer und ich befürchtete schon, dass alle meine Nähte gerissen waren. Zaghaft versuchte ich mich zu bewegen, doch ich steckte fest. Unbeweglich war ich zwischen dem Fuß der Frau und dem Außenschuh eingeklemmt. Schmerzen verspürte ich trotzdem kaum, weil ich mich durch den Druck und dem Schweiß scheinbar der Schale gut angepasst hatte. Die schmerzverzerrten Geräusche kamen auch nicht von mir, stellte ich nun fest, sondern von dem Mann, der bei der Aktion ausgerutscht und unsanft auf dem Asphalt gelandet war. “Sehr gut, das war einmal erfolgreich”, meinte die Frau zufrieden zu ihrem leidenden Mann, der sich mühsam trotz der schweren Böcke am Fuß versuchte, wieder aufzuhieven. “Kannst du mir beim zweiten Schuh vielleicht auch gleich helfen?” 


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