Der Business Class-Passagier

“Haben Sie vielleicht ein Klebeband?” wollte der Passagier aus der ersten Reihe wissen, als das Flugzeug die Reiseflughöhe erreicht hatte und die Anschnallzeichen erloschen waren. Die Flugbegleiterin starrte ihn zuerst entsetzt an, bemühte sich aber rasch, wieder eine gelassene Miene aufzusetzen, denn sie wollte auf keinen Fall die anderen Gäste beunruhigen. Noch bevor die Dame antworten konnte, fügte der adrett in dunklen Jeans, Polo-Hemd und Merino-Pullover gekleidete Mann hinzu: “Ich bräuchte es nur, um meine Schuhsohle zu reparieren. Ich muss irgendwie noch bis nach Hong Kong kommen. So ärgerlich.” Er hob dabei dezent seinen rechten Fuß in die Höhe, um das Ausmaß des Schadens zu demonstrieren. Seine Gesprächspartnerin musste ihr Grinsen krampfhaft unterdrücken. “Es tut mir leid, aber wir dürfen so etwas leider nicht an Board mitführen”, erklärte sie und verschwand in der Galley. 

Ratlos ließ sich Erik wieder in seinen Sitz fallen. Gerade auf dieser Reise, bei der er ausnahmsweise einmal in der Business Class fliegen durfte, musste ihm dieser Schnitzer passieren. Guter Dinge hatte der IT-Experte den Abend in der Flughafenlounge begonnen, wo er sich nicht nur eifrig durch das Buffet gekostet, sondern sich auch den einen oder anderen Schluck Alkohol gegönnt hatte. Die wenigen anderen Gäste, die um diese Uhrzeit noch darauf warteten, abtransportiert zu werden, tippten eifrig in ihre elektronischen Geräte oder versteckten sich hinter einer der fein säuberlich drapierten und zur freien Entnahme bereitgestellten Zeitungen. Fasziniert von der entspannten Stimmung und dem Habitus der anderen Reisenden hätte er beinahe vergessen, sich rechtzeitig zum Gate seines Abendfluges nach München zu begeben. 

Gestresst machte er sich schließlich auf den Weg. Bereits nach wenigen Schritten stolperte er beinahe über seinen Fuß und ärgerte sich über seine Ungeschicklichkeit, die er manchmal an den Tag legte, wenn er hektisch wurde. Sein eleganter Polycarbonat-Handgepäckskoffer, den er kess neben sich her rollen ließ, bewahrte ihn gerade noch vor einem Sturz. Der Übeltäter konnte rasch identifiziert werden. Die dünne, beige Sohle seines relativ neuen Sneakers hatte sich fast bis zum Ballen vom anthrazitgrauen Stoff gelöst und war nun schonungslos der Schwerkraft ausgesetzt. Auf seinem violett-blau gestreiften Socken, der nun hervor blitzte, konnte er einen leichten Windzug wahrnehmen. Nachdem ihm so rasch keine Problemlösung einfiel, testete Erik frustriert den effizientesten Gehstil, um ohne weiteren Zwischenfall irgendwie seinen Flug zu erreichen und legte sich schließlich auf ein Nachschleifen des betroffenen Fußes fest.

Nach einem etwa 35-minütigen Flug setzte der Vogel grazil in der bayerischen Hauptstadt auf und nach einer kurzen Fahrt konnten die Passagiere über eine Gangway das moderne Flughafengebäude betreten. Erik hatte nun etwa eine Stunde Zeit, bis er seine Weiterreise antreten musste, und hoffte, in irgendeinem Geschäft Ersatzschuhe erwerben zu können. Nach wenigen mühsamen Metern, in denen er einige Male unvorsichtig mit dem exponierten Socken am kalten Steinboden landete, musste er feststellen, dass fast alle Geschäfte um diese späte Uhrzeit bereits geschlossen waren. Schließlich versuchte er sein Glück im Duty Free Shop, wo vorrangig Alkohol, Parfums, Zigaretten und Schokoladen angepriesen wurden. Doch Erik interessierte sich nicht für drei Flaschen 0815-Wodka zum Preis von zwei oder die besonders günstige 3 Kilo Packung Milka-Naps-Mix. 

Kurz bevor er die Hoffnung verloren hatte, fand er im hintersten Eck der Verkaufsfläche einen Ständer mit bunten Schals, Sonnenhüten aus Stroh und anderen filigranen Materialien und einigen bunten Flip Flops. Die Kollegen von der Niederlassung seiner Firma in Hong Kong hatten ihn zwar vor dem feuchten Wetter um diese Jahreszeit gewarnt, aber er konnte sich trotzdem nicht recht für das einzige im Geschäft verfügbare Schuhwerk begeistern. Vor allem in der langen Nacht im Großraumflugzeug, wo es eigentlich immer frisch war und zog, waren Schlapfen nicht ideal. Sicherheitshalber beschloss der Geschäftsreisende doch, sich ein Paar zu genehmigen, denn er wollte auf keinen Fall nur mit Socken durch das Flughafengebäude in Hong Kong marschieren müssen, um zu seinem Koffer zu gelangen, in dem sich ein rettendes zweites Paar Schuhe fürs Büro befand. 

Nachdem wenig los war und die Verkäuferin augenscheinlich Ansprache brauchte, erzählte Erik ihr an der Kassa von seinen herausfordernden Stunden zu Beginn der Reise. “Ich kann ihnen ein paar Pflaster mitgeben, wenn Sie wollen. Vielleicht halten die ja”, schlug sie mit starkem bayerischen Akzent vor. Obwohl es optisch vermutlich keine Augenweide sein würde, konnte sich der Techniker sofort für die Idee begeistern. “Danke! Das wäre super. Daran hab ich wirklich nicht gedacht. Als ich im Flugzeug nach einem Klebeband gefragt habe, wurde die Flugbegleiterin etwas panisch.” Beide mussten lachen.

Im Flugzeug angekommen, platzierte er sein Gepäck inklusive den neu erworbenen Flip Flops im Gepäcksfach über seinem geräumigen Platz am oberen Deck. Danach setzte er sich beruhigt hin, packte die Pflaster aus und schlürfte genüsslich an seinem Begrüßungssekt. Er war garantiert der erste Business Class Passagier mit Pflaster am Schuh, dachte er amüsiert. Als die Flugbegleiterin ihn begrüßte, fiel ihr sofort die kreative Lösung auf. “Also das hab ich auch noch nicht gesehen”, witzelte sie, “aber eigentlich keine schlechte Idee.” Erik, der mittlerweile die ganze Geschichte gelassen nahm, meinte schließlich grinsend: “Ja, das ist angeblich die neueste Mode aus Paris.” 


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