Das Sommerfest

Oberst Ernesto Oresto saß in seinem geräumigen Büro in der Abteilung, die er seit geraumer Zeit leitete, und trimmte genüsslich seine wohl gepflegten Zehennägel. Ein Porträt seines Idols Johann Schober, dem wohl bekanntesten Polizeipräsidenten der Zwischenkriegszeit, beobachtete, von der Wand aus, wie etwa 90 Prozent der abgetrennten Zehennagelteile fein säuberlich in einem von der Dienststelle zur Verfügung gestellten schwarzen Mistkübel versenkt wurden. Der Polizeibeamte hatte mehrmals darüber nachgedacht, genauso wie der abgebildete Mann mit der Zwickerbrille und der wunderbar symmetrischen Haarpracht auch einmal das Amt des Bundeskanzlers anzustreben, war aber zum Schluss gekommen, dass er ein angenehmeres Dasein bevorzugte. Im Bundeskanzleramt konnte er es sich schließlich wahrscheinlich nicht leisten, die Fußpflege im Dienst vorzunehmen.

Seine Sekretärin, Christine Bahr, unterbrach die Gedanken des Obersts. Als sie enthusiastisch an der hab geöffneten Türe klopfte, setzte er sich hastig auf den Nagelzwicker und versteckte seinen nackten Fuß unter seinem opulenten Massivholztisch. Sein genervtes “Herein” erfüllte nicht mehr seinen Zweck, denn die blonde Damen mit langem, welligem Haar stand bereits mitten im Zimmer. “Herr Oberst”, fing sie hektisch an, während sie sich zuerst durch die Haare fuhr und dann eine Strähne nach hinten katapultierte. “Das Sommerfest wird ein voller Erfolg. Ich habe schon 150 Rückmeldungen bekommen und die Anmeldungsfrist endet ja erst Ende der Woche.” Der Mann mit schütterem, grauem Haar erstarrte. Der versteckte Nagelzwicker bohrte sich gleichermaßen in seine Pobacke wie auch in die belederte Polsterung seines ergonomischen Chefsessels. “Wie kann das sein, Frau Bahr?” verhörte er forsch die Dame, die mittlerweile unruhig das Gleichgewicht immer wieder von einem auf das andere Bein verlagerte. “Wir haben ja nur 80 Personen eingeladen?”

Das alljährliche Outdoor-Sommerfest war für den Beamten das Highlight des Dienstjahres, nicht nur weil er gleich danach immer seinen fünf-wöchigen Sommerurlaub antrat. Die Stimmung war meist ausgelassen, denn nach einer ausführlichen Lobesrede wurden die Erfolge seiner Abteilung gebührend mit sorgfältig ausgesuchtem österreichischem Wein gefeiert. Es war natürlich essentiell, nur ihm wohlgesonnene, umgängliche Menschen einzuladen. Das Räuspern seiner Sekretärin riss ihn aus seinen Tagträumen und brachte ihn wieder auf den unangenehmen Boden der Realität. “Zeigen Sie mir einmal die Liste!” fauchte er die verschreckte Frau an und entriss ihr das feinsäuberlich zusammengeheftete Zettelkonglomerat. “Was?” brüllte er entsetzt. “Warum zum Teufel hat der Innenminister von Ungarn zugesagt?” Als er gleich darunter den Namen seines Erzfeindes Trudbert Pilhagen-Furutz, mit dem er bereits seit der Polizeischule eine Rivalität pflegte, las, platzte ihm der Kragen. 

Er wurde hochrot im Gesicht, stand auf und fuchtelte wild mit den Zetteln in der Luft herum. “Frau Bahr, weshalb haben Sie diese Menschen eingeladen? Sie hatten ganz klare Anweisungen! Warum wurden diese nicht befolgt? Das wird Konsequenzen haben.” Er ließ sich wieder in seinen Sessel fallen. Als sich der Nagelzwicker durch seine maßgeschneiderte Uniform bohrte, stieß er einen lauten Schrei aus, der die Sekretärin dazu veranlasste, rasch aus dem Zimmer ihres Vorgesetzten zu flüchten. Aufgeregt griff er zu seinem Telefonhörer und wählte hektisch die Nummer der internen Poststelle. Nach zweimaligem Verwählen antwortete endlich jemand an der anderen Seite der Leitung. “Oberrevident Kubitschek, Poststelle”, knurrte eine unmotivierte Person. “Wie kann ich Ihnen behilflich sein?” “Hier ist Oberst Oresto”, brüllte der Polizist, um sich Respekt zu verschaffen. “Sagen Sie, meine Sekretärin, Frau Bahr, hat Ihnen einen Packen Einladungen zum Verschicken gebracht. Wieviele waren das und an wen sind die gegangen?” 

“Moment, bitte, Herr Oberst”, erwiderte der Sachbearbeiter. “Ich hol schnell die Unterlagen.” In einer viel zu langen Gesprächspause ruinierte Oresto seinen Nagelzwicker, weil er die Feder durch sein hektisches Drehen und Drücken überstrapaziert hatte. “So ein Dreck”, fluchte er in die vermeintlich leere Leitung. “Entschuldigung”, meldete sich sein Gesprächspartner irritiert zurück. “Ich wurde nicht gleich fündig. Also, uns wurde eine Liste mit 450 Adressen übergeben. Weil wir nur 80 Einladungsschreiben hatten, mussten wir einige Kopien anfertigen, sehe ich hier vermerkt.” Dem leitenden Beamten sackte das Herz in seine löchrige Hose, als er realisierte, dass seine Sekretärin wohl zu verantworten hatte, dass Einladungen an die gesamte Kontaktliste seiner Abteilung ergangen waren, anstatt an die 80 von ihm markierten Adressen. Wieder brüllte er in sein Telefon: “Und da kommen Sie nicht auf die Idee, das mit mir noch einmal abzuklären? Es gibt auch in unserem Haus noch Hierarchien.” Erst nach drei weiteren Sätzen stellte er fest, dass sein Gegenüber bereits aufgelegt hatte. 

Vor lauter Wut schmetterte er seinen kaputten Nagelzwicker gegen die Wand und brüllte: “Angetreten, Frau Bahr!” in Richtung des langen Ganges. “Alles in Ordnung, Ernesto?”, erkundigte sich eine zaghafte Stimme aus dem Büro nebenan. “Nichts ist in Ordnung. Das Sommerfest wird ein Alptraum. Keine legere Feier, sondern ein Staatsakt mit diplomatischem Protokoll und Hochsicherheitsvorkehrungen. Das wird sie mir büßen! Wie kann man nur so unfähig sein!”, antwortete der aufgeregte Oberst mit erhobener Stimme. Nach wenigen Minuten näherten sich endlich leise Schritte seiner Kanzlei. 

“Wenn sie mir nicht sofort eine schlüssige Erklärung liefern können, leite ich ein Disziplinarverfahren ein”, schrie er noch bevor die herbeieilende Person in seinem Büro angekommen war. “Ich hoffe nicht”, antwortete sein Kollege von nebenan, Oberst Kiriliyi, schüchtern und steckte seinen Kopf vorsichtig zur Tür herein, bevor er sich dem Tisch des hyperventilierenden Obersts annäherte. Er zauberte eine Flasche Schnaps und zwei kleine Gläser hervor und schenkte großzügige Portionen ein. “Trink einmal zur Beruhigung einen Schluck”, offerierte der Kollege. “Meistens geht´s dann besser!” “Ich hoffe, du hängst nicht zu sehr an dieser Flasche”, witzelte Oresto, nachdem er endlich wieder tief eingeatmet hatte. “Ich glaube, diese Situation erfordert mehr als ein Stamperl!” Beide lachten. 


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