Liselotte und ihr Mann Rudi standen immer schon früh auf. Vor der Pension hatte der Wecker in der Regel sogar vor dem Morgengrauen geläutet. Nun gönnten sie sich meistens eine längere Nachtruhe, obwohl sie es weiterhin bevorzugten, nicht allzu spät in den Tag zu starten. Nachdem sie noch einige Vorbereitungen für den Besuch der guten Freunde Peppi und Resi am Heiligen Abend treffen wollte, entschied die Frau sich, sicherheitshalber ihren Wecker einzuschalten, um ja noch alles stressfrei erledigen zu können. Schon etwas verschlafen drückte sie also wie gewohnt den Einschaltknopf ihres Radioweckers und verkroch sich dann zufrieden unter der warmen Decke. Nach wenigen Minuten war sie bereits im Traumland angekommen, wo sie gemeinsam mit ihrem Rudi in einem Restaurant an der Seine mit Blick auf den Eiffelturm Fondue aß.
Noch bevor sie sich fragen konnte, wie sie nach Paris gekommen war, riss sie ein übertrieben fröhliches Schlagerlied aus dem Schlaf. „Umtata, umtata“, ertönte es aus dem lauten Gerät. “Wenn es am Berg taut, eile ich zum Gipfel und rufe Halloriau”, trällerte ein ihr unbekannter Sänger. “Um gleich den Frühling zu begrüßen.” Liselotte kannte sich nicht aus. Ein Blick auf den Wecker verriet ihr, dass es 23:58 Uhr war. Als sie wieder einigermaßen in ihrem Schlafzimmer angekommen war, begann sie das Gerät zu verfluchen. “Blödes Teil, es kann ja nicht sein, dass du dich irgendwann einschaltest, vor allem nachdem du Jahre lang so tadellos funktioniert hast”, mahnte sie den treuen Begleiter. Angefressen stand sie auf, drückte unsanft den Ausschaltknopf und legte sich wieder ins warme Bett. Hoffentlich konnte sie bald wieder einschlafen, schließlich musste sie ja am nächsten Tag fit sein. Zum Glück schnarchte Rudi noch laut und genüsslich im Nebenzimmer und hatte scheinbar den Wecker nicht gehört.
Gerade als sie wieder dabei war, die Nachtruhe fortzusetzen, fing der Wecker erneut an, Geräusche von sich zu geben. Einem Trommelwirbel folgte ein afrikanischer Liedertext, den sie nicht verstand: “Nghlangabez‘ ikhukhula. Noma kwenyuka. Uzungthol’ emlanjeni soka lami. Ngyafa inkumbulo nothando. Mvula ng’cel uthule webafo.” Wieder musste sie sich erst orientieren. Schließlich riss ihr der Geduldsfaden. Sie schoss aus dem Bett und zog mit aller Kraft das Stromkabel des widerspenstigen Weckers aus der Wand. “Noch einen Ton und ich schmeiß dich aus dem Fenster, du mühsames Ding”, mahnte sie den verstummten Geräuschproduzenten, ehe sie sich wieder in Richtung ihres Bettes bewegte. Obwohl sie genüsslich vor sich hin gähnte, war sie unrund, weil sie Angst hatte, nicht gleich wieder einschlafen zu können. Schließlich musste sie sich schon seit mehr als einer viertel Stunde herumärgern.
Wiedererwarten schlief sie leicht wieder ein. Diesmal ereilten sie jedoch unangenehme Träume, denn der Wecker hatte sie nicht rechtzeitig aufgeweckt und sie musste die Freunde im Pyjama begrüßen. Noch dazu hatte sie natürlich auch nicht mehr die Zeit gehabt, alles für die gemeinsame Weihnachtsfeier vorzubereiten. Gerade als sie feststellte, dass die nicht einmal Lebensmittel für das Abendessen eingekauft hatte und begann, panisch zu werden, umschmeichelte ein Weihnachtslied ihre Ohren. “I said, I’m dreaming of a white Christmas. Just like the ones I used to know. Where the tree tops glisten. And Children listen. To hear sleigh bells in the snow.” Erst nach einer knappen Minute realisierte Liselotte, dass sie nicht mehr in ihrem Alptraum gefangen war, sondern dass sie, zwar etwas sanfter als zuvor, zum wiederholten Male aus dem Schlaf gerissen worden war.
Verzweifelt entschied sie sich doch, ihren Rudi zu wecken, denn sie wusste nicht mehr, wie sie das Gerät alleine unter Kontrolle bringen konnte. Vorsichtig schlich sie sich über den Gang in das Zimmer ihres Mannes. Dieser lag ausgebreitet in seinem geräumigen Bett und schnarchte genüsslich vor sich hin. Erst nach mehrmaligem Rütteln konnte er zu Bewusstsein geholt werden. Er setzte sich wortlos auf und starrte seine Frau an, als ob er sie zum ersten Mal gesehen hatte. “Rudi, mein lieber Rudi, ich kann den Wecker nicht ausschalten”, beichtete sie ihm mit schlechtem Gewissen. “Ich weiß schon nicht mehr, was ich noch versuchen kann.” Der Mann kannte sich noch immer nicht aus und blickte etwas hilflos in Richtung seines eigenen, stillen Weckers, auf dem hell leuchtende Ziffern ihm mitteilten, dass es 0:18 war. “Warum stellst du dir für Mitternacht einen Wecker?” fragte er verwirrt. “So viel müssen wir ja für morgen auch nicht mehr vorbereiten!“
“Nein, ich hab den Wecker für 6:30 Uhr eingestellt. Ich weiß auch nicht, warum der sich jetzt eingeschaltet hat”, verteidigte sie sich schließlich, während der Mann ihr taumelnd in ihr Schlafgemach folgte. “Nicht einmal das Ausstecken hat etwas gebracht.” Rudi überlegte kurz und antwortete dann: “Das überrascht mich nicht, weil der hat ja eine Pufferbatterie für den Fall, dass es einen Stromausfall gibt.” Mittlerweile spielte es ein Rock-Lied, das die beiden verschlafenen Pensionisten leicht überforderte. Zum Glück konnte der Mann das Gerät mit nur einem gekonnten Handgriff zum Schweigen bringen. Er drückte noch auf einige Tasten und musste schließlich anfangen zu lachen. “Lieschen, ich glaube du hast einfach die falsche Weckzeit eingestellt. Kannst du dich nicht erinnern? Letztes Jahr als wir um 3:00 Uhr Früh nach Santorin geflogen sind, mussten wir ja um Mitternacht aufstehen.”
Die Frau musste sich über sich selbst ärgern, packte den Übeltäter und verfrachtete ihn in den Keller, wo er sie keinesfalls noch einmal aufwecken konnte. “Beruhig dich, bitte”, drängte Rudi seine Liselotte. “Es ist ja nichts Schlimmes passiert. Wirst sehen, morgen kannst du schon wieder darüber lachen.” “Schalte doch bitte deinen Wecker ein. Ich kann nicht einschlafen, wenn ich weiß, dass dieser Apparat noch in meinem Zimmer steht”, bat sie ihren Mann und verschwand sogleich hinter der Holztüre. Beide lagen noch einige Zeit hellwach im Bett, bevor sie endlich den Schönheitsschlaf fortsetzen konnten. Der Weihnachtsabend verlief jedoch trotz der abenteuerlichen Nacht davor zu ihrer vollsten Zufriedenheit. Noch dazu hatten sie eine lustige Geschichte, die sie ihren Freunden erzählen konnten.
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