“Albert, aufstehen”, ertönte die gestresste Stimme der Mutter aus dem Gang. Erst der zweite Klopfversuch riss den jungen Buben unsanft aus seinen Träumen. “Komm, raus aus den Federn, sonst kommen wir noch zu spät zu Oma und Opa.” Der aus dem Schlaf Geholte blickte verwirrt mit halb zugeklebten Augen in Richtung Uhr, die ihm mitteilte, dass es der 24. Dezember war. “Nicht schon wieder Weihnachten”, grantelte er vor sich hin und suchte nach einem Ausweg, um dem besinnlichsten Tag des Jahres zu entkommen. Zusätzlich zum Mit-den-Verwandten-plaudern, das ihm an jedem anderen Tag des Jahres auch ein Dorn im Auge war, waren ihm an diesem bestimmten Feiertag auch noch die Weihnachtslieder extrem zuwider. Sein Vorschlag, die Besinnlichkeit damit zu würdigen, nicht miteinander zu sprechen, war leider in der Vergangenheit nie gut angekommen. “Ich weiß wirklich nicht, von wem er das hat”, meinte der Vater immer nachdenklich. “Von mir sicher nicht!”
Nach weiteren zwei nicht erfolgreichen Versuchen der Mutter, das Kind endlich aus dem Bett zu bringen, schoss diese hektisch ins Kinderzimmer und fand einen ganz unter der Decke verkrochenen Sohn vor, der sich bemühte, möglichst authentisch zu zittern. “Mama, ich glaube, ich habe Fieber”, hauchte er kaum hörbar in die zart weihnachtlich duftende Raumluft. “Der Hals tut mir so weh, dass ich kaum schlucken kann, und Bauchkrämpfe habe ich auch noch dazu.” Seine Augen waren immer noch halb verklebt. “Armes Kind, du bist ja ganz blass!” erwiderte die Mutter besorgt und griff dem Buben auf die Stirne. “Dass dir das gerade am Heiligen Abend passieren muss. Bist du dir sicher, dass du zu krank bist, um zu den Großeltern mitzukommen? Die ganze Familie freut sich schon, dich wieder einmal zu sehen!” Vor lauter Angst begann der Bub zu hüsteln. “Ich hätte doch auf dich hören und gestern eine Haube aufsetzen sollen weil mir geht’s jetzt so dreckig”, krächzte er und zog sich die Decke wieder über den Kopf.
Nachdem die Eltern das Haus verlassen hatten und die Gefahr des Weihnachtsbesuchs gebannt war, fing der Bub an, sich rasch besser zu fühlen. Sein Schüttelfrost war bei der Freude über ein leeres, ruhiges Haus einer wohligen Wärme gewichen. Die Magenkrämpfe entpuppten sich nun als Hunger. Auch das leichte schlechte Gewissen schaffte es nicht, seinen Weg zur Keksdose zu behindern. Er hatte ja sowieso nur vor, ein paar Stück zu verzehren. Das würde im Idealfall gar nicht auffallen. Samt einer ganzen Dose unter dem Arm und immer noch in seinem Lieblingspyjama gekleidet schlich er in den ersten Stock, wo sein Vater die alten Computer aus der Firma gelagert hatte. Dort angekommen setzte er sich auf den Boden, verdrückte gleich beinahe die Hälfte der Kekse und verspürte, wie seinem müden Körper endlich wieder Energie zugeführt wurde. Er musste sich richtig dazu zwingen, die Dose wegzustellen, denn er wollte ja nicht, dass die Eltern seinem Kekskonsum auf die Schliche kommen würden.
Sorgfältig baute Albert einen Computer nach dem anderen auf und begab sich auf die Suche nach einer Verteilersteckdose, die ihm zum Glück gleich aus dem zweiten Kasten, den er voller Erwartung aufmachte, entgegenfiel. Nachdem er alle Stromkabel eingesteckt hatte, erwachten die in die Jahre gekommenen Geräte nach der Reihe zum Leben. Der Computerfanatiker warf sich gleich vor lauter Aufregung eine weitere Ladung Kekse in den Mund, die ihm hervorragend schmeckte. Am liebsten wollte er sowieso an jedem Tag des Jahres Kekse zum Frühstück essen anstatt Brot oder Müsli und verstand nicht ganz, wieso ihm die Eltern dies verwehrten. “Nein, Kind, Weihnachtskekse darfst du nur an den Weihnachtsfeiertagen essen”, erklärten ihm diese immer wieder. Einmal hatte er versucht, schon vor dem Heiligen Abend einige Kekse aus den Keksdosen zu stibitzen, weil er fand, dass diese vor Weihnachten besser schmeckten, aber die Eltern hatten ihn ertappt, weil sein Mund voller Keksbrösel war.
Als die Geräte betriebsbereit waren, tippte er wild auf den Tasten herum und probierte alle möglichen Befehle aus, von denen er in den Computermagazinen, die er sich immer heimlich besorgte, und den vielen Computerforen gelesen hatte. Die Zeit verging rasch. Draußen wurde es nicht nur dunkel, sondern die Füllung der Keksdose neigte sich immer mehr dem Ende zu. Als dem Buben der schwindende Vorrat auffiel, ärgerte er sich kurz, dass er sich nicht zusammenreißen konnte. Wahrscheinlich konnte er dies nicht mehr vor den Eltern verheimlichen. Vielleicht würde die Mitleidsmasche funktionieren, hoffte er und versuchte sich vorerst nicht weiter darüber Gedanken zu machen. In der Zwischenzeit hatte er sich in das Computersystem der Gemeinde gehackt und freute sich innerlich über seinen Erfolg. “Hahaaa, super, ich hätte nicht gedacht, dass das geht”, redete er mit sich selbst, aß als Belohnung die letzten Kekse auf. “Na die werden sich wundern!”
Die Eltern waren mittlerweile, etwas früher als normal, nach dem Besuch bei den Großeltern, bei dem natürlich wie jedes Jahr die gesamte Familie anwesend war, auf dem Weg nach Hause. Schließlich mussten sie ja nach dem kränkelnden Sohn sehen, um den sie sich Sorgen machten. Sobald sie das Ortsschild passiert hatten, erwartete sie ein Lichtspiel der Straßenbeleuchtung. Abwechselnd funkelte dieses wie die Fassaden der amerikanischen Einkaufszentren, die ihre Kundschaft vor Weihnachten besonders beeindrucken wollten. “Ist das nicht wunderbar?“, meinte die Mutter zum Vater. “So etwas habe ich noch nie zu Weihnachten erlebt.” Der Vater musste sich zwar mehr auf die Straße konzentrieren, weil diese wegen dem Blinken nicht immer optimal ausgeleuchtet war, fand aber das Spektakel auch stimmungsvoll. “Ja, es ist wie ein Konzert der Lichter”, pflichtete er bei, “wirklich schön!”
Der Sohn stellte währenddessen mit Schrecken fest, dass sich das Geräusch des elterlichen Autos ihrer Garage rasant näherte. Rasch schaltete er den Strom ab, versteckte die Keksdose in einem Kasten und sprintete in Richtung seines Kinderzimmers, wo er sich gerade in letzter Sekunde noch unter die Bettdecke retten konnte. Wenige Sekunden später kitzelte bereits ein Lichtkegel aus dem Gang seine Augen und der Kopf des Vaters blickte vorsichtig um die Ecke. “Bist du wach, Albert?” fragte er leise, um den Sohn im Zweifelsfall nicht zu wecken. “Ja, ich hab eh den ganzen Tag geschlafen”, antwortete der Erkrankte. “Ich kann ruhig ganz kurz Geschenke aufmachen kommen.” Er schleppte sich ins Wohnzimmer, wo ihn ein Berg voller Packerl unter dem Baum erwartete und seine Augen fingen an zu funkeln. Dieser Teil des Weihnachtsfestes war jedenfalls für ihn der erträglichste. Als er sich gerade zum Auspacken auf den Boden setzen wollte, begannen beide Eltern von ihrem Erlebnis am Heimweg zu erzählen. “Das Lichterspiel auf der Straße war wirklich nett. Schade, dass du es verpasst hast”, schwärmte die Mutter. Albert musste grinsen. Wenn die Eltern nur wüssten, wie er den Tag verbracht hatte.
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