Über Gewitter und Corona

Als ich ein kleines Mädchen war, gab es übers Jahr verteilt, aber vor allem im Sommer, einige Gewitter. Obwohl ich das Prasseln des Regens als beruhigend empfand und den Duft der nassen Wiesen immer schon liebte, waren mir Gewitter ein Dorn im Auge. Um zu verhindern, dass der Blitz in unser Haus einschlug, durfte ich den Fernseher und andere elektronische Geräte nicht einschalten, was besonders in meinen fernsehsüchtigen Volksschuljahren eine Tortur für mich war. Ich zählte ungeduldig die Sekunden zwischen Blitz und Donner und fragte alle 10 Minuten meine Oma oder meine Eltern, ob das Gewitter endlich vorbeigezogen war. Obwohl regelmäßig der Drang vorhanden war, einfach ohne Rücksicht auf Verluste das Gerät aufzudrehen, hatte ich zu viel Ehrfurcht vor dem Naturspektakel. Oft hörte man in der Nachbarschaft laute, explosionsartige Geräusche und wenig später die herannahende Feuerwehr, was mir Angst machte. Außerdem war irgendein weitschichtiger Verwandter einmal am Feld von einem Blitz getroffen worden. Mir wurde also schon früh bewusst gemacht, dass mit einem Gewitter nicht zu spaßen war. 

Nachdem es wegen des Klimawandels mit den Jahren in Europa immer weniger oft, aber dafür heftigere Gewitter gab und ich in eine Wohnung zog, verlor das Wetterphänomen seine Faszination. In meinen Jahren an der Westküste Kanadas gab es meiner Erinnerung nach sogar mehr Schneefall als Gewitter, was in einer Stadt, die nicht einmal Schneepflüge besitzt, Bände spricht. Von da an verband ich Gewitter mehr mit dem Reisen an exotische Orte dieser Welt. 2010 umflog ich beispielsweise auf dem relativ kurzen Flug von Frankfurt nach Brüssel in einem ohnehin in der Luft recht instabilen Embraer 13 Gewitterzellen. Nach der Ankündigung des Piloten vor dem Start, dass es möglicherweise turbulent werden konnte, war es leider schon zu spät zum Aussteigen gewesen. Aber ich wollte ja unbedingt endlich die Hauptstadt Europas sehen. Obwohl man oft das Gefühl hatte, dass es bereits wegen der dunkelgrauen Wolken dämmerte, war es wenigstens ein Tagflug, also quasi halb so schlimm. 

Die imposantesten Gewitter in der Luft erlebte ich allerdings in Afrika, genauer gesagt auf dem Flug von Nairobi, wo der Flug aus Zürich zwischenlandete, nach Dar es Salaam. Schon als Mädchen hatte ich von einer Reise nach Sansibar geträumt. Um die Jahrtausendwende war es zumindest in meinem Umfeld “in”, seine Wohnung farbenfroh zu streichen. Es war, als ob die Generation meiner Eltern sich vom Alptraum der bunten Blümchentapeten und beigen Badezimmerfliesen befreien wollte. Ermutigt von einer Freundin, die auch in einer bunten Wohnung lebte, entschied meine Mutter sich also in unserer neuen Wohnung für ein gelb-orange-rotes Wohnzimmer. Die leicht bräunlich angehauchte orangene Farbe einer bekannten Wandfarbenmarke hieß Sansibar. 

In ungeduldiger Erwartung auf unseren Urlaub im Paradies sah ich also sehnsüchtig aus dem Fenster des Swiss Airbus A340-300. Es war bereits dunkel, als wir die letzte Etappe unserer Anreise mit dem Flugzeug auf uns nahmen. Anders als in Europa gab es wenig beleuchtete Städte auf diesem Kontinent und zwischen ihnen herrschte komplette Dunkelheit. Nach einigen Flugminuten näherten wir uns der Grenze zwischen Kenia und Tansania und somit auch dem Kilimandscharo-Nationalpark. Die klare Sicht wich plötzlich einzelnen Ansammlungen an Cumulonimbus-Gewitterwolken, die wie riesige Türme in den Himmel ragten. Wohin ich auch blickte, wurden die Wolken abwechselnd und scheinbar auf allen Seiten von Blitzen hell erleuchtet. Es schien so, als ob das Gewitterorchester eine dramatisch-harmonische Symphonie spielen würde. So fasziniert ich auch von diesem Schauspiel war, betete ich fast den ganzen restlichen Flug, dass wir den hunderten Blitzen nicht zu nah kommen würden. 

Nachdem der Lärm des Flugzeuges jenen der relativ weit entfernten Donner übertönte, erlebten wir also eine stille Symphonie. Wie Stummfilme im vorigen Jahrhundert regte dies jedoch meine Phantasie an. Schließlich hatte ich auch schon mindestens zwei unglaublich laute Gewitter erlebt, wo ich überzeugt davon war, dass Gott, sollte es ihn wirklich geben, dadurch seinen Unmut über den Lebensstil der Menschen ausdrücken wollte. Im Dezember 2012 befanden wir uns im Südpazifik auf Hochzeitsreise. Leider hatten wir bei der Planung nur die Durchschnittstemperatur zu dieser Jahreszeit, nicht aber die Niederschlagswerte recherchiert. Die meisten Tage auf See von Sydney nach Vanuatu und Neu Kaledonien verbrachten wir also damit, uns in die Bar an der Stelle des Schiffes zu retten, wo man den Seegang am wenigsten stark spürte. Überraschenderweise erwartete uns in Champagne Bay, Vanuatu, ein strahlender Sonnentag, den wir an einem idyllischen Strand im Paradies verbrachten. Am Abend, zurück am Schiff, zog ein unglaublich lautes und helles Gewitter auf. Beinahe zur selben Zeit schlug ein gefühlt hunderte Meter breiter und Kilometer langer, wie Adern verzweigter Blitz ins Meer ein und die ganze Erdkugel schien vom lauten Donner zu beben. Nachdem wir uns mitten in der Natur befanden und es um uns herum schwarz war, wirkte das Spektakel weit imposanter als die Gewitter meiner Kindheit am Land in Österreich.

Ein ähnlich lautes Gewitter erlebten wir auch vier Jahre später auf unserer ersten Reise nach Singapur. Wir liefen gerade mit dem Schiff im Hafen ein, als von einer Sekunde auf die andere, als wären wir kurz abwesend gewesen, plötzlich ein Gewitter sein Unwesen trieb. Trotzdem man zuerst keine Blitze erkennen konnte, war es wegen der Lautstärke mindestens so beeindruckend und furchteinflößend, wie jedes in Vanuatu. Man musste bei jedem lauten Donner befürchten, dass gleich eines der funkelnden Hochhäuser der Skyline in sich zusammenfallen würde. Ich war jedenfalls fest davon überzeugt, dass man die Erschütterungen des Bodens messen hätte können. Schließlich hatte ich das Gefühl, dass ich mich in einer Disco mit unglaublich penetrantem und aufdringlichem Bass befand. 

Nun sitze ich nach einer Woche mit viel Regen und einigen vereinzelten Gewittern hier und bin froh, dass es nach einem unglaublich heißen Frühling, den wir größtenteils in Corona-Isolation verbrachten, endlich etwas Niederschlag gab. Auch wenn die Gewitter zu Hause nicht so imposant oder unvergesslich sind wie in anderen Erdteilen und ich schon länger unruhig auf die nächste abenteuerliche Reise warte, weiß ich, dass es eine Zeit nach der Corona-Pandemie geben muss, wo ich nicht mehr nur über Reisen phantasieren muss. Entweder der Virus wird durch die Fortschritte der Medizin in die Knie gezwungen oder er wird immer wieder wie ein gelegentliches Gewitter unseren Alltag durcheinander wirbeln. Am wichtigsten ist jedoch, dass wir reflektieren und hoffentlich etwas gelernt haben. 


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