Dagobert hasste Familienfeiern. Nicht nur hatten ihm seine Eltern den Namen Dagobert angetan, sondern es war auch ein Familienmitglied mühsamer als das andere. Manchmal gab es keinen Ausweg, wie zum Beispiel als der unschuldige Briefzusteller eine verhängnisvolle knallpinke Einladung für die Hochzeit von Cousine Isolde und ihrem langjährigen Freund Kurt im Postkasten hinterließ. Alle Ausreden waren bei den Eltern auf taube Ohren gestoßen. Sogar ein ganz unabsichtlicher Sturz von der Leiter hatte nicht den erwünschten Erfolg erzielt. So saß er schließlich am viel zu heißen 18. Juli mit drei Bandagen in einem extrem sackigen beigen Anzug, den er hasste, weil er gar nicht zu seinem Hautton passte, am Rücksitz des elterlichen Kraftfahrzeuges und haderte mit seinem Schicksal. Die Krücken ratterten bei jeder Unebenheit auf der Straße ungut im Kofferraum des schon etwas in die Jahre gekommenen Kombis.
Seine Schwester Daisy, die neben ihm saß, konnte es schon kaum erwarten, endlich bei der Kirche anzukommen, und redete unentwegt auf ihren genervten Bruder ein. “Ich liebe Hochzeiten,” verkündete sie lautstark. “So romantisch! Ich bin wirklich schon gespannt, welches Kleid sich die Isolde ausgesucht hat. Du nicht, Dagobert?” “Nein, nicht wirklich. Vor allem sehe ich nicht ein, warum die ganze Familie bei diesem unnötigen Mist dabei sein muss,” antwortete dieser, während er unmotiviert aus dem Fenster starrte. Plötzlich rastete die sonst so ruhige Mutter aus: “Kind, warum musst du nur immer so ein unguter Grantscherben sein. Wir freuen uns, mit deiner Cousine zu feiern und du vermiest uns schon wieder den ganzen Tag!” Die restliche Fahrt wechselten sie kein einziges Wort mehr. Dagobert vertrieb sich die Zeit, indem er sich mit den Klammern, die eigentlich seine Verbände zusammenhalten sollten, spielte.
Die riesige Kirche war fast voll. Der griesgrämige Bub wusste gar nicht, dass sie so viele Verwandte hatten und konnte sich auch nicht vorstellen, dass der Freundeskreis des Brautpaares so groß war. Er hoffte inständig, dass er sich in einer der hinteren Reihen verstecken konnte, doch seine Tante, die Mutter der Braut, die ihnen sofort freudig entgegengeeilt kam, durchkreuzte seinen Plan. “Schön, dass ihr da seid!” quietschte sie in ungewohnt hohen, hektischen Tönen. “Ich hab euch gleich in der zweiten Reihe Plätze reserviert. In der ersten Reihe ist leider kein Platz, weil die neue Freundin von meinem lieben Ex-Mann unbedingt dort sitzen muss. Seine Referatsleiterin, stellt euch das einmal vor. Dass sie sich überhaupt her traut, dieses geschmacklose Flittchen.” Sie verschwand so schnell, wie sie aufgetaucht war. Als sie in der zweiten Reihe Platz nahmen, schwieg sich die Familie noch immer an.
Dagobert fühlte sich in Kirchen gar nicht wohl. Er verstand nicht, dass man sich freiwillig an so einen düsteren Ort begeben konnte, überall Kreuze und das ewige Nachbeten. Da wusste der rebellische Bub etwa 7000 Beschäftigungen, denen er lieber nachging. Außerdem fand er es besonders peinlich, wenn Priester versuchten, Paaren Tipps für die Ehe zu geben. Es musste etwa genauso sein, wenn kinderlose Paare Freunden mit Kindern Erziehungsratschläge gaben. Ein total aufgekratzter Pfarrer riss Dagobert aus seinen wirren Gedanken. “Seid gegrüßt, meine Brüder und Schwestern. Halleluja! Jetzt ihr!” verlautbarte er und füllte mit seiner Stimme die ganze Kirche aus. “Nein, noch lauter, ich kann euch nicht hören!” Nach einem überraschend kurzweiligen Gottesdienst empfingen die Gäste das Brautpaar vor der Kirche mit Seifenblasen und Sprühkerzen. Dagoberts Magen knurrte laut. Er freute sich schon aufs Essen.
Im Gasthaus wurde ausgelassen gefeiert. Schon vor dem Hauptgang war die Tante in einer besonders guten Stimmung und tanzte wild im Raum herum. Gefühlt alle fünf Minuten befand sie sich an einem anderen Tisch. Als sie bei der Familie ihres Bruders angelangt war, fragte sie Dagobert beiläufig: “Glaubst du, fällt es auf, dass ich keine Schuhe mehr anhabe?” Sie kicherte laut. Der Neffe blieb gewohnt nüchtern und antwortete gelassen: “Es fällt definitiv weniger auf, als wenn du andere Kleidungsstücke ausziehen würdest.” Als seine Mutter vom Buffet zurückkam, wollte sie gleich wissen, was er mit der Tante besprochen hatte. “Nicht viel, Mama,” gab er Auskunft. “Sie ist schon ziemlich betrunken. “Ja, das überrascht mich nicht. Ich glaube, sie kommt gar nicht klar damit, dass der Onkel seine neue Freundin mitgebracht hat. Die ist mir ziemlich suspekt. Naja, was soll man machen,” erklärte sie ihrem wieder etwas genervten Sohn.
Plötzlich klingelte ein Glas. Es verstummte erst, als die Tante so fest dagegen geschlagen hatte, dass es wie die Schale eines weichen Eis geköpft wurde. Ein paar Gäste lachten laut. “Es freut mich so sehr, dass ihr alle gekommen seid. Prost.” Sie trank ihr Glas Sekt auf einen Sitz aus und fuhr fort: “Mein Neffe hat mir geraten, dass ich meine Rede halten soll, bevor ich noch weitere Kleidungsstücke fallen lasse.” Dagobert wollte im Boden versinken, als ihm seine Mutter einen bösen Blick zuwarf. Leise flüsterte er in ihre Richtung: “So hab ich das nie gesagt, ich schwöre!” Die Tante stieg in der Zwischenzeit auf einen Sessel und fuhr fort: “Ist jemandem aufgefallen, dass ich keine Schuhe mehr anhabe? Ich glaube nicht!” Sie hob ein Bein, zeigte auf ihre löchrige Leopardenstrumpfhose und stürzte beinahe vom Sessel. Ihr Ex-Mann versuchte sie davon abzuhalten fortzufahren. “Lass mich,” fauchte sie ihn an. “Apropos ausziehen. Ich bin so froh, dass ich heute hier sein kann. Wenn mich mein lieber Bruder nicht gestern gerade noch rechtzeitig aus dem Gefängnis geholt hätte, wäre ich immer noch hinter Gittern.” Der ganze Raum verstummte und alle Blicke waren auf die betrunkene Tante gerichtet. Endlich schaffte der Onkel es, seine Ex-Frau aus dem Verkehr zu ziehen.
Dagobert hatte die Feier dank des lustigen Vorfalls doch nicht ganz so missfallen, wie er es erwartet hatte. Nach dem peinlichen Auftritt der Tante beschlossen die Eltern jedoch recht schnell, die Heimreise anzutreten. Nach kurzem Stillschweigen im Auto stellte die Mutter den Vater zur Rede: “Du hast deine Schwester gestern aus dem Gefängnis geholt und hast mir nichts gesagt?” Der Vater zuckte mit den Achseln und antwortete: “Ich hätte gehofft, dass wir das einfach unter den Tisch kehren können. Es wäre alles so gut gelaufen, wenn sie es nicht ausgeplaudert hätte. Um ehrlich zu sein, ist mir die ganze Geschichte ziemlich peinlich.” Dagobert war nun neugierig geworden. “Papa, was hat die Tante überhaupt angestellt?” Der bereits leicht genervte Vater gab dem Drängen der Familie nach und begann zu erzählen: “Letztes Wochenende war die Tante bei irgendeinem Clubbing in der Inneren Stadt. In den frühen Morgenstunden ist sie stock besoffen über den Stephansplatz gelaufen und hat Weihnachtslieder gesungen. Dann ist sie auf die glorreiche Idee gekommen, nackt in den Nachtbus einzusteigen. Sie hat scheinbar behauptet, es heißt nicht ohne Grund Nacktbus.” Dagobert musste lachen, nicht nur weil Daisy bereits am Sitz daneben gemütlich vor sich hinröchelte. Vielleicht waren Familienfeiern doch nicht ganz so unlustig, wie er bisher gedacht hatte.
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