Freiheit mit 1PS

Als ich im Sommer nach der Matura endlich meinen Führerschein im neumodischen Scheckkartenformat in der Hand hatte, fühlte ich mich unglaublich frei und unabhängig. Ich erbte das alte Auto meiner Mutter, einen turmalingrünen Ford Escort, Baujahr 1994, und fuhr am Tag nach der Führerscheinprüfung gleich durchs halbe Land. Obwohl das Autofahren noch sehr stressig für mich als Führerscheinneuling war, überquerte ich Berge, erkundete Städte und fuhr sogar mit dem Auto zu Vorlesungen auf die Uni. Nach nur wenigen Monaten zog ich samt meinem bis zum Rand vollgepackten Auto nach Genf und machte die Schweiz und Frankreich unsicher. Meinen Vater, der damals meinte, dass private Kraftfahrzeuge der Vergangenheit angehörten und dass er sich garantiert kein neues Auto mehr kaufen werde, belächelte ich nur. 

Als ich nach drei Jahren in Kanada, wo man größtenteils auf das Auto angewiesen ist und es semi-urbane Gegenden gibt, wo man durchaus eine Stunde auf den Bus warten muss, wieder nach Wien zog, verliebte ich mich in die öffentlichen Verkehrsmittel. Während viele Leute verzweifelt in letzter Sekunde noch in die U-Bahn hechteten, weil sie nicht zwei Minuten auf die nächste warten wollten, schätzte ich die dichten Intervalle und schwärmte unseren Freunden im Kanada gegenüber oft darüber, dass es statt nur einem unzuverlässigen Bus mindestens eine Hand voll verschiedener Möglichkeiten gab, von der Inneren Stadt zu unserer Wohnung zu kommen. Eine Straßenbahnlinie führte direkt von der Arbeit zu uns nach Hause und ich verbrachte die etwa 20-minütige Fahrt entweder in ein spannendes Buch oder mein aktuelles Strickprojekt vertieft. Wenn mich meine Mutter ab und zu mit dem Auto abholte und wir lange im Stau standen, fragte ich mich immer, warum sich das Menschen regelmäßig freiwillig antaten. 

Am Ende der ersten Corona-Welle kaufte sich mein Mann ein Faltrad. Tagelang konnte er an nichts anderes denken, verbrachte Stunden lang auf den Websites diverser Fahrradhändler in Wien und haderte mit der Entscheidung. Ich war dabei nicht besonders hilfreich. Ich verstand überhaupt nicht, warum er sich umbedingt so ein komisches, teures Rad fürs Pendeln anschaffen wollte. Vor allem hatte er schon einen erfolglosen Versuch hinter sich, mit meinem alten Rennrad ins Büro zu fahren. Ich verstand durchaus, dass er wegen der Corona-Situation nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren wollte, war aber der Meinung, dass er sich wenn dann ein günstiges gebrauchtes Rad suchen sollte, das ihm niemand stehlen würde. Als nur mehr ein Rad in der Konfiguration und Farbe, die er wollte, verfügbar war, packten wir uns eines Tages nach der Arbeit zusammen und holten es ab. Das Brompton All Black in der Farbe Rocket Red, liebevoll von uns Elton getauft, stieß also zu unserer Familie. 

Kurz nachdem die Ausgangsbeschränkungen weiter gelockert wurden, verabredete ich mich mit einer ehemaligen Kollegin zum Mittagessen. Schließlich hatte ich schon einen Lagerkoller und brauchte jemanden zum Reden. Schon während dem Höhepunkt der Krise war ich jedoch zeitweise extrem panisch gewesen, wenn sich beispielsweise beim Laufen oder am Gang andere Leute nicht an den vorgeschriebenen Mindestabstand gehalten hatten. Deshalb schlug mir mein Mann vor, mit dem Faltrad statt den öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt zu fahren. Um meinen Blutdruck und die Nerven zu schonen, stimmte ich zu. Schließlich hatte ich auch kürzlich vom Auto aus einen Mann gesehen, der in der Straßenbahn zum Niesen den verpflichtenden Mund-Nasenschutz abgekommen hatte. Am Rad war ich zumindest solchen rücksichtslosen Leuten nicht schutzlos ausgeliefert. 

Vom ersten Tritt an war ich in das schrullige Rad verliebt. Anders als erwartet fuhr es sich extrem gut. Es war wendig und ich zischte flott dahin. Bei einer späteren “Spaß-“Ausfahrt auf der Donauinsel, bei der ich gemütlich mit 29 km/h dahin rollte, fragte mich sogar ein Rennradfahrer, ob ich mit dem Elektrofahrrad unterwegs war. Nachdem mein Mann immer noch von zu Hause arbeitete, verbrachte ich in den ersten Wochen mehr Zeit auf seinem neuen Rad als er. Es war für mich eine neu gewonnene Freiheit, besonders weil wir gezwungener Maßen mehrere Wochen die Wohnung kaum verlassen hatten. Die Luft war frischer und der Himmel blauer, als ich es je zuvor erlebt hatte. Meine Gedanken waren zumindest im Sattel relativ unbeschwert, auch wenn mir die generelle Situation unweigerlich sehr viele Sorgen bereitete. Relativ schnell war mir bewusst, dass ich mein eigenes Brompton haben wollte. Nachdem Räder plötzlich ganz hoch im Kurs waren und ich eine Farbe wollte, die nirgends lagernd war, musste ich nur lange, schier unendlich erscheinende acht Wochen warten, bis meine Bowie in Purple Metallic endlich da war. 

Heute kann ich mir die Zeit, wo ich alle Strecken mit dem Auto zurückgelegt habe, gar nicht mehr vorstellen. Es ist ein wunderbares Gefühl, am Abend auf dem Heimweg vom Ruderverein dem Sonnenuntergang entgegen zu radeln. Ich muss weder im Stau stehen noch Parkplatz suchen. Über die Route entscheidet nicht das Straßennetz oder die Wiener Linien. Statt recycelter Klimaanlagenluft atme ich die frische Brise des Fahrtwindes. Der einzige Schweiß, den ich rieche, ist mein eigener und nicht der der unzähligen verschwitzten in die U-Bahn gepferchten Menschen. Ich kann genüsslich vor mich hin introvertierten und meinen Zeitplan selbst bestimmen. Was sich jedoch nicht geändert hat, ist meine typische Wiener Freundlichkeit, wenn ich genüsslich unkoordinierte Kinder beschimpfe, die in der Mitte meines Radweges herumtorkeln und mich zum Bremsen zwingen. Aber ich glaube, sonst haben sich meine Gewohnheiten sehr stark zum Positiven gewandelt, denn gerade in Zeiten des Klimawandels ist es wichtig, so oft es geht, von Pferdestärken auf Personenstärken umzusteigen. 


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