Die Krähen

Schlaftrunken und unmotiviert schleppte sich Henriette am Montagmorgen ins Büro. Das laute Heulen des Windes und die Hagelkörner, die in der Nacht immer wieder an ihr Schlafzimmerfenster geklopft hatten, hatten ihr eine erholsame Nachtruhe verwehrt. Als sie knapp vor 8 Uhr aus der Straßenbahn ausstieg, spürte sie trotz ihres schicken neuen Trenchcoats die kalte Brise Wind bis auf ihre Knochen. Wenigstens hatte es zu hageln und regnen aufgehört. Noch immer mit dem viel zu früh angesetzten Meeting hadernd, kroch sie gefühlt im Schneckentempo in den dritten Stock des Bürogebäudes in der Inneren Stadt. Nachdem es ein Altbau war und schon einige Leute im Lift stecken geblieben waren, mied sie diesen in der Regel. An diesem Tag verfluchte sie jedoch ihre Angst vor dem Ungetüm und spürte, wie ihr Puls unangenehm und hartnäckig bei jedem Schritt gegen ihre Schädeldecke drückte. Als sie außer Atem endlich bei der Eingangstüre angekommen war, schwor sie sich zum wahrscheinlich hundertsten Mal, mehr Sport machen zu müssen, und hielt ihre Zutrittskarte erleichtert zum Schloss. 

Die Türe fing zwar sofort zu rattern an, öffnete sich aber bestenfalls einige Millimeter. Durch den Türschlitz drangen eine kalte Brise und unregelmäßige Pfeifgeräusche in den Vorraum. Frustriert griff sie zur Türklinke und schaffte es, sich mit einigen ruckartigen, hektischen Bewegungen Zutritt zu den Büroräumlichkeiten zu verschaffen. Nachdem es am Gang noch dunkel war, vermutete sie, dass sie die erste im Büro war. Wie ferngesteuert schaltete sie zielsicher das Licht ein und steuerte in Richtung ihres Zimmers, das sie widerwillig mit drei Kolleginnen und Kollegen teilte. Als sie um die Ecke bog, sah sie, dass über den Parkettboden verteilt vereinzelt Zettel und getrocknete Blätter lagen. Henriette rieb sich verzweifelt die Augen, aber als sie diese wieder öffnete, befand sie sich immer noch im Büro. Während sie ungläubig ins Leere blickte, watschelte ihr seelenruhig eine Krähe entgegen und fing dann laut an, sich über die Ruhestörung zu beschweren. Kraaa- kraaa- kraaa. Was war nur passiert? 

Die Bürotüre stand offen. Sie war sogar so wuchtig vom Wind gegen die Wand geweht worden, dass man einen Abdruck der Schnalle erkennen konnte. Aus dem geräumigen Zimmer mit einer im Altbau üblichen hohen Decke drangen mehr beunruhigende Geräusche: Kraaa-kraaa-kraaa. Darüber hinaus konnte Henriette das Flattern von Flügeln wahrnehmen. Wie viele Eindringlinge es wohl waren? Etwas verstört entschied sie sich doch, den Raum zu betreten. Sie konnte ja schließlich nicht ohne die Unterlagen, die sie tagelang so minutiös vorbereitet hatte, bei dem in der Früh angesetzten Meeting aufschlagen. Henriettes kompakter Schreibtisch stand gleich links neben dem Eingang. Wie üblich türmte sich auf einer relativ kleinen Fläche eine überraschend große Menge an Unterlagen. Auf einem dieser Zetteltürme thronte eine Krähe, die genüsslich kleine Löcher in eine pinke Plastikfolie pickte. Ein anderes Tier badete fröhlich in den zerfetzten Resten einer Broschüre, die sie vor einigen Monaten für die Firma zusammengestellt hatte. Dahinter hatte ein weiteres Federvieh den Frühstücksvorrat eines Kollegen geplündert und saugte hektisch wie ein Staubsauger hunderte gepoppte Amaranthkörner auf. 

Henriette stand minutenlang hilflos in der Türe und hoffte inständig, dass vielleicht doch jemand auftauchen würde, um sie bei ihrem Kampf gegen die Eindringlinge zu unterstützen. Wie oft hatte sie ihre Kolleginnen und Kollegen davor gewarnt, diese Tiere nicht ständig mit dem teuren Körner-Mix aus dem Bioladen zu verwöhnen. “Die werden wir nicht mehr los, wenn ihr so weitermacht,” hatte sie wie ein Tonband immer wieder ihre Besorgnis ausgedrückt. Die Zimmergenossinnen und -genossen hatten nur gelacht und gemeint, dass sie nicht immer so eine Spaßverderberin sein sollte. “Das sind doch ganz liebe Tiere, die nur Hunger haben,” hatten sie behauptet. Henriette hatte ihre bösen Absichten jedenfalls immer schon durchschaut.

Als die eine Krähe sich immer gefährlicher ihren Unterlagen für das Meeting annäherte, riss ihr der Geduldsfaden. Sie musste rasch etwas unternehmen, um die Zettel vor den Schnäbeln der Unruhestifter zu retten. Kurzerhand nahm sie die Tageszeitung, die sie erst am Weg in die Arbeit gekauft hatte, aus ihrer Tasche, rollte sie zu einem langen, dünnen Stab zusammen und fing an, unkoordiniert in die Richtung der Tiere zu fuchteln. Als eine zuerst unbeeindruckte Krähe sich endlich in Richtung Fenster begab, pirschten sich zwei weitere unauffällig von hinten an. Während die eine plötzlich begann, aggressiv auf ihre Tasche zu pecken, plusterte sich die andere auf und beschwerte sich lautstark: kraaa-kraaa-kraaa. Henriette versuchte sich weiter verzweifelt gegen die Angreifer zur Wehr zu setzen, als plötzlich ein anderes graues Getier zielsicher auf sie zusteuerte. 

Als die herannahende Krähe versuchte, auf ihrem Kopf zu landen und sich die Krallen wenige Sekunden später schmerzhaft in ihre Kopfhaut bohrten, schoss sie schweißgebadet im Bett hoch. Zwei Katzen starrten alarmiert mit weit aufgerissenen Augen und angelegten Ohren in ihr verschwitztes Gesicht. Einzig und alleine ihr Freund schlief weiter und schnarchte genüsslich vor sich hin. Immer noch etwas verängstigt und schwer atmend blickte sie sich um, seufzte erleichtert, als sie keine Krähen im Schlafzimmer entdecken konnte, und griff zu ihrem Mobiltelefon. Es verriet ihr, dass es 7:15 am Samstag, dem 27. April, war und sie daher nicht ins Büro musste. Sie schickte ein kurzes Stoßgebet nach oben, dass am Montag nicht wirklich Krähen auf sie warten würden, drehte sich um und konnte zum Glück genauso wie ihre Katzen rasch wieder einschlafen. 


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