Josephine Röller war in Rage. Sie stand vor einem fünf Meter hohen Haustor eines Altbaus in der Favoritenstraße und schlug wie wild mit ihrem Gehstock auf die Eingangstüre ein. Nachdem sie sich so nicht öffnen ließ, versuchte sie mit dem Gummi, der sich als Dämpfung auf der Unterseite des Gehbehelfs befand, bei ihrem langjährigen Bekannten Friedbert anzuläuten. Eine fremde Stimme antwortete zaghaft “Hallo?” Sie hatte wohl durch die fehlende Präzisionsarbeit eine andere Klingel betätigt. Doch es war ihr egal. “Lass mich rein, du Dreckskerl, du hast mir meine Sparbücher aus dem Safe gestohlen. Wenn ich dich in die Finger kriege,“ brüllte sie in die Anlage und fuchtelte wild in der Luft herum. ”Mach auf oder ich rufe die Polizei,” drohte die aufgebrachte, in einen dicken Wintermantel gekleidete Pensionistin. Auf ihrem extravaganten Hut hatte sich nach fünf Minuten vor der Tür bereits mindestens ein Zentimeter Schnee gesammelt.
Als eine junge Frau schließlich nach einigen weiteren Minuten das Haus verließ, zwängte sich die Seniorin ungeniert durch das Tor und wackelte mit vorgebeugtem Oberkörper im Schneckentempo in Richtung Aufzug. Der alte Lift setzte sich ratternd in Bewegung, nachdem sich die nachträglich eingebaute Schiebetüre nach mehrmaligem Halbschließen und Wiederöffnen endlich ganz zugegangen war. Josephine war schon ungeduldig. Wenn es noch länger gedauert hätte, hätte sie mit dem Gehstock nachgeholfen, obwohl sie ihre Tochter regelmäßig versuchte zu überzeugen, dass sie damit nicht alle Probleme lösen konnte. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand sie endlich vor der verschlossenen Türe ihres alten Bekannten im fünften Stock. Wieder betätigte sie unentwegt die Klingel und klopfte dazu mehrmals mit dem Gehstock gegen die Türe, als ob sie der modernen Technologie nicht vertrauen würde. Doch es kam keine Antwort.
Erst nachdem die besorgten Bewohnerinnen und Bewohner des Stockwerkes sich am Gang versammelt hatte, um zu herauszufinden, was vor sich ging, knarrte der Boden hinter der Türe und ein älterer Mann mit grauem Vollbart öffnete vorsichtig die Türe. Beinahe hätte ihn der Gehstock am Schienbein erwischt. “Josephine, mach doch nicht so ein Theater,” verkündete der Mann und blickte in mindestens zehn erschrockene Augenpaare am Gang. “Du hast ja die ganze Nachbarschaft aufgescheucht. Musste das sein?” fügte er hinzu und zwirbelte unruhig seine langen Barthaare. Die angestachelte Dame verschaffte sich rasch Zutritt zur Wohnung, indem sie wie mit ihrem Stock wild vor sich hin fuchtelte. Der Bekannte konnte sich erst in letzter Sekunde vor der Alltagswaffe retten. Bevor er die Tür schloss, rief er in den Gang: “Husch, husch, zurück in die Wohnungen, hier gibt es nichts zu sehen.” Dann fiel die schwerfällig quietschende Türe langsam ins Schloss.
Ohne die gatschigen Winterstiefel auszuziehen, drang Josephine ins Innere der Wohnung vor. Entsetzt wischte der Reinlichkeitsphanatiker Friedbert hektisch mit einem Fetzen hinter ihr den knarrenden, alten Frischgrätparkett trocken. Er atmete erst wieder auf, als sich die letzten Schneeklumpen gelöst hatten und sich die ältere aufgebrachte Dame samt Mantel in das graue Stofffauteuil fallen hatte lassen. Mindestens zwei Sprungfedern hatten dabei ihr Leben gelassen. Er setzte sich auf den opulenten Hocker gegenüber und schaute fragend in die Augen seiner Bekannten. Diese stieß fast mit ihrem Gehstock eine Blumenvase vom Couchtisch, als sie hektisch zum Reden ansetzte: “Wo hast du meine Sparbücher versteckt? Hast du das Geld gar schon behoben? Ich will sofort mein Geld zurück!” Friedbert atmete ruhig und kontrolliert und erwiderte schließlich nach einigen Sekunden Stille: “Warum glaubst du, dass ich dich bestohlen habe? Ich habe das doch gar nicht notwendig!” “Weil du mir dauernd sagst, dass meine Familie mir nur das Geld aus der Tasche ziehen will und das Geld bei dir viel besser aufgehoben wäre. Als ich die Ferienwohnung in Edelschrott gekauft habe, hast du auch gesagt, dass sie mich da hineintheatert haben. Außerdem ist der Safe offen gestanden, nachdem du letzten Donnerstag bei mir zu Besuch warst.”
“Ich kann dir nur nochmals sagen, dass ich sie nicht habe. Vielleicht hast du sie deinem Bruder gebracht. Der raunzt dich doch so viel wegen den Spielschulden von seiner Tochter an,” antwortete Friedbert schließlich nach einer weiteren langen Pause, in der das Ticken der fünf verschiedenen Uhren Josephine narrisch machte. Gerade als sie aufspringen wollte, um die Wohnung umzudrehen, bot er ihr zur Beruhigung einen Tee an. “Wenn du meinst,” erwiderte sie ungeduldig, “aber du weißt, ich trinke nur einen Kamillentee. Bei anderen Sorten vertrage ich die Säure nicht.” Als der Mann wenige Minuten später mit einer Tasse Tee zurückkam, saß die Bekannte zu seiner Erleichterung immer noch im Fauteuil. Das hatte er jedenfalls nicht erwartet. Sicherheitshalber hatte er zur Beruhigung den Tee mit einem kleinen Schuss Obstler verfeinert. Josephine nahm einen kleinen Schluck und beschwerte sich sofort: “Der schmeckt aber scharf.” “Tut mir leid, den habe ich ihn wohl zu lange ziehen lassen,” entschuldigte sich Friedbert sofort, um von seiner Tat abzulenken. “Lass ihn noch etwas auskühlen, dann schmeckt er sicher besser.”
Nach kurzer Zeit kugelte die alte Dame, die wegen der Säure nie Alkohol zu sich nahm, entspannt in der Horizontalen auf dem Fauteuil herum und starrte an die Decke. “So eine schöne Tapete,” lallte sie vor sich hin und hob ihren Gehstock mühsam etwas in die Höhe. “Sowas kann man heute gar nicht mehr kaufen. Vor dem Euro war alles besser.” Wenig später klingelte Josephines Tochter Augustine, die der Mann in der Verzweiflung verständigt hatte, an der Türe. “Komm rein, sie hat etwas zu tief ins Glas geschaut,” begrüßte sie der Bekannte. “Unfreiwillig, sozusagen.” Er lachte zaghaft. Das hatte er gut gemacht. Zu zweit wuchteten sie die etwas übergewichtige Seniorin aus dem Fauteuil und brachten sie zum Auto. Am Weg beschwerte sie sich noch kaum verständlich über die beißende Kälte, bevor sich Friedbert hastig verabschiedete. Wieder in der Wohnung angekommen, öffnete dieser mit Genugtuung seinen Safe und begutachtete die Sparbücher von Josephine, die sie ihm gegeben hatte, um darauf aufzupassen. Vielleicht würde er sogar versuchen, in einiger Zeit etwas davon abzuheben, wenn sie sich nicht mehr daran erinnern konnte. Zuerst genehmigte er sich jedoch zur Belohnung ein großzügiges Stamperl Obstler.
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