Julius hechtete gerade noch in die U-Bahn, als die Türen bereits piepsten und sich zu schließen begannen. Noch vor einigen Monaten hatte er die Menschen ausgelacht, die ausrasteten, wenn sie zwei Minuten auf die nächste Garnitur warten mussten. Nun war er auch einer von ihnen, aber er schob die Schuld auf seinen neuen, stressigen Job. Zum Glück war das Manöver gerade noch gut gegangen und er konnte in letzter Sekunde seine Zehenspitzen in Sicherheit bringen, bevor die Türen zusammentrafen und der Zug sich ruckartig in Bewegung setzte. Der Wagon war gesteckt voll und er konnte sich und seine viel zu prall gefüllte Aktentasche gerade noch zwischen zwei älteren Männern in die Ecke zwängen, wo normalerweise Platz für einen Kinderwagen war. Bei den nächsten zwei Stationen zwängten sich immer mehr Fahrgäste in den ohnehin bereits viel zu überfüllten Wagon. Nachdem die Klimaanlage die Hitze, die die unzähligen Menschen von sich gaben, nicht mehr bewältigen konnte, wurde es stickig und die ersten Schweißtropfen begannen Julius über die Stirne hinunter zu laufen. Vielleicht hätte er doch auf die nächste U-Bahn warten sollen. Wenigstens hatte er die Tortur bereits fast überstanden, denn er musste bei der nächsten Station schon aussteigen.
Als sich der Zug gefühlt genau zwischen den Stationen befand — schließlich kannte der junge Mann seinen Arbeitsweg mittlerweile so gut wie seine Westentasche — blieb dieser plötzlich ruckartig stehen. Er konnte sich gerade noch am Griff festhalten und vermeiden, dass er auf die vor ihm stehenden Fahrgäste fiel. Eine Schülerin auf der anderen Seite der Garnitur, die freizügig in Minirock und bauchfreiem Leiberl gekleidet war, stürzte währenddessen auf einen betagten, kurz vor der Pension befindlichen Geschäftsmann, der laut zu fluchen begann, als er wiederum auf eine vor ihm stehende Mutter mit Kind geworfen wurde: “Die Jugend von heute, immer nur ins Handy schauen. Beim nächsten Mal pass doch besser auf. Als ich jung war, hätte es so etwas nicht gegeben.” Das Mädchen hievte sich auf, richtete ihre zerzausten Haare, murmelte kaum verständlich “Entschuldigung” und zwängte sich dann langsam ans hintere Ende des Wagons. Julius, der in manchen Situationen unter Platzangst litt, fühlte sich nicht wohl und klammerte verzweifelt an seiner viel zu schweren Tasche. Am liebsten hätte er sie zwischen den Beinen abgestellt, aber die darin befindlichen Dokumente waren ihm zu heikel. Während er inständig hoffte, dass die Fahrt bald fortgesetzt werden konnte, kämpfte er gegen einen drohenden Schweißausbruch an. Endlich meldete sich der Fahrer: “Werte Fahrgäste und Fahrgästinnen. Die Fahrt kann derzeit leider nicht fortgesetzt werden, weil wir ein technisches Pro….” Plötzlich verstummte die Stimme und es wurde dunkel.
Julius klammerte sich in der Panik noch fester an seine teure Aktentasche, die er sich gönnte, als er die Zusage für seinen neuen Job bekommen hatte. Seinen Puls spürte er bis in seinen Kopf hinein: bonk, bonk, bonk. Nachdem die Klimaanlage auch ausgefallen war, wurde es immer stickiger. Einige Fahrgäste, die sich näher bei den Fenstern befanden, versuchten diese aufzureißen, doch sie waren verriegelt. Es blieb bis auf einige Handylichter, die wie Glühwürmchen im Wagon herumschwirrten, dunkel und ein mulmiges Gefühl breitete sich aus. Jemand betete unentwegt „Vater Unser“, was Julius verunsicherte. Hunderte Gedanken schossen auf einmal durch den Kopf des normalerweise so ruhigen jungen Mannes. Handelte es sich um einen Anschlag? Wusste der Folgezug, dass sie im Tunnel feststeckten? Bestand bei einer Evakuierung die Gefahr, sich bei den Schienen zu elektrisieren? Wie tief befanden sie sich eigentlich unter der Erde? Er geriet immer mehr in Panik, weil er vor einigen Jahren einmal ein Buch über einen Zug gelesen hatte, der in einem Tunnel immer tiefer hinabfuhr und niemand wusste, was mit den Passagieren passieren würde. Noch bewegte sich der Zug nicht und es war immer noch dunkel. Ein Kind hatte mittlerweile angefangen, ohrenbetäubende Geräusche von sich zu geben. Der Sauerstoff wurde knapp.
Nach einer gefühlten Ewigkeit setzte sich die U-Bahn unerwartet und noch ruckartiger als zuvor in Bewegung. Widerwillig kamen deshalb einige Menschen ungewollt mit anderen verschwitzten und verängstigten Menschen in Kontakt, aber kaum jemand hatte noch die Kraft, sich zu beschweren. Nachdem sich Julius vor lauter Panik immer fester an seiner Tasche und der Haltestange geklammert hatte, kam er fast als einziger stehender Fahrgast nicht zu Sturz. Während es im Wagon selbst dunkel blieb, konnte er endlich in der Ferne ein herannahendes Licht erkennen. Es war seine Station. Nach weiteren ewig erscheinenden Minuten kam die defekte U-Bahn dort zu stehen und Sicherheitspersonal öffnete die Türen mit Brechstangen. Die im Wagon befindlichen Menschen schnappten alle zur gleichen Zeit nach Luft, als diese endlich wieder ins Innere strömte. Julius atmete durch. Ihm war heiß und kalt gleichzeitig. Seine lockigen Haare klebten wie ein Helm an seiner Kopfhaut und seinem roten Gesicht. So konnte er unmöglich in der Arbeit erscheinen.
Als einer der letzten verließ er den Zug und hastete ins Freie. Er musste schnell nach Hause, um sich frisch zu machen, traute sich aber nicht nochmals in die U-Bahn einzusteigen. Benommen torkelte er zu Fuß die Straße entlang. Kurz hatte er sich überlegt, schnell ein Taxi zu rufen, doch er stand noch zu sehr neben sich. Die frische Luft tat ihm gut, also marschierte er immer weiter. Nach etwa einer Dreiviertelstunde erreichte er seine Wohnung. Erleichtert öffnete er die Türe zu seiner gewohnten Umgebung, und stellte sich umgehend unter die angenehme, wohl temperierte Dusche, 38, 5 Grad, wie er es am liebsten hatte. Nachdem seine Knie immer noch nach dem Schock schlotterten, entschied sich er spontan, sich ausnahmsweise noch einen kleinen Beruhigungsschnaps zu gönnen. Weil seine Hände auch noch zitterten, kam ihm der Alkohol etwas aus. Egal, dachte er, nach diesem Morgen hatte er sich das durchaus verdient. Nur in Unterhose und Unterleiberl gekleidet, ließ er sich mit dem Schnapsglas in seinen Ohrensessel fallen und seufzte zufrieden. Nur wenige Minuten später war das Glas in den Spalt zwischen der Armlehne und dem Polster gerutscht und er schnarchte genüsslich mit weit geöffnetem Mund vor sich hin. Blöderweise hatte er allerdings vorher vergessen, die Arbeit über seine Verspätung zu informieren.
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