Der verunfallte Käfer

Die frische Winterluft kitzelte angenehm Sabines Lungenflügel, während sie mit halb geschlossenen Augen in die Sonne blinzelte. Die majestätischen Tannen trugen bedächtig ein Kleid an neu gefallenem Schnee, der sich schwer an die vielen Äste verschiedener Größen anhängte. Es war still, angenehm still und eine willkommene Abwechslung zu den vergangenen Monaten, die vorrangig in ihrer kleinen Wohnung eingebunkert verbracht worden waren. Für einige Minuten konnte die Rechnungsprüferin die Pandemie und die schmerzende Sehnsucht nach etwas Normalität vergessen. Beinahe fühlte sie sich wie eine der Tannen, die einfach nur existierten und der Sonne entgegen wuchsen. “Au, so ein Scheiß”, riss sie plötzlich eine schrille Stimme aus ihrer Trance. “Ich glaube, mein Steißbein ist gebrochen.”

Nachdem sie so unsanft wieder in der Realität angekommen war, fand Sabine ihre Freundin Franzi mitten am schneebedeckten Wanderweg wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken im Schnee rotieren. Für einen kurzen Moment hatte sie ganz vergessen, dass sie gar nicht alleine mit den Schneeschuhen im Wald unterwegs war. Aus Sorge um die psychische Gesundheit ihrer Kindergartenfreundin, die ihren Job wegen Corona verloren hatte, nur mehr Regierungs-Pressekonferenzen ansah und dadurch immer mehr in ein Loch zu fallen schien, hatte sie ihr Anfang der Woche angeboten, gemeinsam eine Wanderung zu machen. “Aber ich habe doch gar kein geeignetes Schuhwerk”, hatte die Arbeitslose damals versucht, sich vor dem Ausflug zu drücken. Sabine hatte jedoch nicht nachgegeben und ihrer Freundin schlussendlich sogar eine komplette Ausrüstung geborgt. 

“Was ist denn passiert?” erkundigte sie sich, nachdem sie einige Sekunden gebraucht hatte, um ihr Lachen zu unterdrücken. Es sah wirklich komisch aus, wie die ehemalige Reisebüroangestellte mit ihren Beinen in der Luft herumruderte, um die körperlichen Auswirkungen ihres Fehltrittes zu analysieren. Zum Glück blickte diese nicht in ihre Richtung, sondern war ganz mit sich selbst beschäftigt. “Mit den blöden Schneeschuhen hat man ja überhaupt keinen Halt”, beschwerte sich die am Boden liegende Frau. “Wie kann einem nur so eine depperte Aktivität Spaß machen?” Während Sabine sich darüber ärgerte, wie undankbar ihre Freundin war, obwohl sie mit aller Mühe versuchte, sie wieder aus ihrem Sumpf herauszuholen, fuhr diese schon fort: “Ich hätte mich nicht von dir zu dem Scheiß überreden lassen sollen, dann hätte ich auch nicht die Ankündigung des Pressekonferenzzeitplans vom Bundeskanzler für die kommende Woche verpasst. Was für ein Schnitzer.” 

Zu allem Überfluss blieb auch noch ein Skitourengeher gemeinsam mit seiner weiblichen Begleiterin stehen und erkundigte sich nach dem Zustand der Verunfallten. Sie lag ja unübersehbar mitten am Weg. “Ist Ihnen etwas passiert?” wollte er besorgt wissen. Franzis Augen leuchteten auf. “Ich habe den Halt verloren und bin nach hinten gestürzt. Ganz ärgerlich. Wahrscheinlich eine Steißbeinverletzung”, gab sie – immer noch am Rücken im Schnee liegend – enthusiastisch Auskunft. “Oje, das tut immer furchtbar weh”, erwiderte der junge Mann,”sind Sie eh nicht am Kopf gelandet? Soll ich sicherheitshalber die Rettung rufen?” Sabines Herz blieb vor lauter Schock beinahe stehen, denn sie traute ihrer wehleidigen Freundin durchaus zu, dass sie sich auch noch nach dem lächerlichen Unfall abtransportieren lassen würde. Wenig später hörte sie erleichtert, wie diese jedoch abwinkte. “Nein, nein, ich muss nur kurz liegen bleiben, bis ich wieder auf kann”, meinte sie und schien wieder etwas besserer Dinge zu sein. Vielleicht traute sie sich aber auch nur nicht, dem charmanten jungen Mann gegenüber unnötige Schwäche zu zeigen.

“Sehr gut”, antwortete der vermeintliche Arzt dem zappelnden, schneeumrahmten Käfer, “der kalte Schnee hilft sicher gegen die Schmerzen.” Die Verunfallte nickte enthusiastisch. “Na, dann wünsche ich Ihnen gute Besserung und noch ein schönes Wochenende”, verabschiedete sich der sportliche Mann und setzte sich gemeinsam mit seiner Begleitung wieder in Bewegung. Während ihre Freundin noch immer mit den Schneeschuhen in der Luft Rad fuhr, konnte Sabine gerade noch den jungen Mann hören, wie er zur Frau, die mit ihm unterwegs war, sagte: “Ich verstehe beim besten Willen nicht, wie die Frau mit den Schneeschuhen stürzen konnte. Die haben ja meines Wissens Spikes. Wie willst da ausrutschen, vor allem wo es ja auch gar nicht eisig und das Terrain relativ flach ist.” Die Frau antwortete schließlich: “Du, ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht, aber manche Menschen bringen auch solche Kunststücke zusammen.” Sabines Gefühle wechselten zwischen Scham und Erheiterung. Sie war jedenfalls froh, bis zur beinahen Unkenntlichkeit in Wärmeschutzkleidung verpackt zu sein. Anonymität konnte in dieser Situation nicht schaden. 

Als Sabine die mitgenommene Franzi, die die gesamte Fahrt angeblich nicht sitzen konnte und mit ihren Armen zwischen Tür und Sitz verspreizt versucht hatte, ihr marodes Steißbein in die Luft zu hieven, nach der einstündigen Fahrt bei ihrer Wohnung abgesetzt hatte, konnte sie sich endlich wieder einigermaßen entspannen. Es war anstrengend gewesen, die vielen Vorwürfe, die sie an den Kopf geschmissen bekommen hatte, emotionslos an sich abprallen zu lassen. Sie nahm sich zwar vor, sich in den nächsten Tagen einmal telefonisch bei ihrer Freundin über den Heilungsprozess zu erkundigen, schwor sich aber, in Zukunft wieder alleine ihrer Lieblingsfreizeitbeschäftigung nachzugehen. Manche Menschen wollen sich einfach nicht helfen lassen. 


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