Die Traumkamera

Amelia schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie war nach einem anstrengenden Arbeitstag schon mindestens drei Mal vor dem Fernseher und einmal im Bett eingeschlafen, bevor ihr Mann auch gegen Mitternacht zu ihr stieß. Nachdem sie wach war, beschloss sie, sicherheitshalber aufs WC zu gehen, um nicht noch einmal in der Nacht aufstehen zu müssen. Schlaftrunken erledigte sie die Notwendigkeit und ließ sich anschließend wieder erschöpft in die himmlische Matratze fallen. Mit letzter Kraft griff sie nach dem Ausschaltknopf ihrer Leselampe und verkündete ihrem Bettgenossen entschlossen: “Ich dreh jetzt das Licht ab.” Noch bevor dieser zu Wort kam, mussten beide herzhaft lachen, als eine weitere Lampe das Schlafzimmer erhellte. Beide schalteten nun ihre Lampen aus und machten es sich auf ihren Kopfpolstern bequem. 

Obwohl ihr Körper erschöpft war, konnte Amelia zu ihrem Ärgernis nicht gleich wieder einschlafen. Während ihr Mann schon im Schlaf zuckte und einer der zwei Kater bereits genüsslich vor sich hin schnarchte, musste sie immer wieder den Arbeitstag Revue passieren lassen. Es war mittlerweile im Büro so unerträglich geworden, dass sie unter der Woche die Stunden bis zum Wochenende zählte, den ganzen Samstag zum Erholen brauchte und am Sonntag schon wieder unrund war, weil der Montag vor der Tür stand. Einen Tag, an dem ihr Abteilungsleiter sie nicht herunter machte, gab es kaum mehr. “Ihr größtes Problem ist, dass sie nicht wie die Frau Krakijn sind”, hatte er ihr erst vergangene Woche an den Kopf geworfen. Weshalb er so ein Fan von der Kollegin war, konnte sie beim besten Willen nicht verstehen. 

Die Lage hatte sich zu Beginn der Woche noch mehr zugespitzt. Nachdem ihr unmittelbarer Chef auf Urlaub war und ihr „eingedienterer“ Kollege heillos überfordert war, musste sie in letzter Sekunde vor der Deadline ein Projekt retten. Jeden Tag saß sie bis in die späten Abendstunden im Büro und koordinierte die Fertigstellung der Publikation, weil der besagte Kollege, der eigentlich zuständig war, zuerst den Überblick verloren hatte und dann sowieso mehr durcheinander brachte, als ihr zu helfen. Als er dann jeden Tag pünktlich um 17 Uhr das Bürogebäude verließ, um einer Verabredung nachzukommen, war sie auf sich alleine gestellt. An diesem Tag beschloss sie, um das rauchende Gehirn einige Minuten abzuschalten, sich ausnahmsweise kurz vor 18 Uhr noch eine Tasse Kaffee in der Gemeinschaftsküche zu gönnen. 

Gerade als sie es sich auf dem durchgesessenen Sofa gemütlich gemacht hatte und begann, den beruhigenden Geruch des koffeinierten Getränks zu inhalieren, schlenderte der Abteilungsleiter am Gang vorbei und konnte es sich nicht verkneifen, so laut, dass es der ganze Gang hören konnte, “na, Frau Parett, sie verbringen auch den ganzen Tag in der Kaffeeküche” hinein zu rufen. Amelia ärgerte sich und eine Reihe an Minderwertigkeitsgefühlen brodelten an die Oberfläche. Obwohl es ihr schwer fiel, entschied sie sich, nicht auf die Provokation zu reagieren und nahm stattdessen einen Schluck braune Brühe zu sich. 

Als sie neu in der Abteilung gewesen war, hatte sie es sich einmal erlaubt, dem Chef ihre Meinung zu sagen, denn er wollte von ihr wissen, wie die Zusammenarbeit mit ihrem Kollegen, der sie immer im Stich ließ, verlief. “Also wenn sie es wirklich wissen wollen, er ladet seine Arbeit immer bei mir ab und ich sehe das nicht ganz ein”, hatte sie ihm damals anvertraut. Gutgläubig hatte sie damals angenommen, dass der Chef wirklich an ihrer Meinung interessiert war. Stattdessen wurde er hoch rot und begann zu hyperventilieren. “Was erlauben Sie sich überhaupt?”, warf er ihr an den Kopf. “Sie sind am Ende der Hierarchie und haben sich über Aufträge nicht zu beschweren. Wenn er will, kann er sie mit so viel Arbeit eindecken, wie es ihm beliebt.” Bevor sie sich noch wehren konnte, war er bereits aus seinem eigenen Büro gestürmt und hatte sie einfach stehen gelassen.  

Diese Woche fraß sie also ihren gesamten Frust in sich hinein und spielte sich mit dem Gedanken, sich eine neue Arbeit zu suchen. Doch dies würde vermutlich nicht von heute auf morgen gehen, hatte sie sich Mitte der Woche eingestanden und deshalb beschlossen, sich mit einem Frusteinkauf zu belohnen. Nachdem sie vor einigen Monaten zum Ausgleich die Straßenfotografie entdeckt hatte, hatte sie gleich das neueste Modell der Fuji-Sucherkamera mit Fixbrennweiten-Objektiv angelacht und war dann rasch in einem schwachen Moment im Büro im Warenkorb gelandet. Dass die Anschaffung fast ein ganzes Monatsgehalt auffraß, war ihr in diesem Moment egal gewesen. Als sie nun nicht schlafen konnte, dachte sie freudig an die bevorstehende Lieferung am morgigen Freitag. Die Aktion hatte also voll ihren Zweck erfüllt.

Plötzlich schreckte Amelia hoch und kannte sich gar nicht aus. Ihr Puls hämmerte im Kopf, während sich einige Schweißtropfen langsam den Weg Richtung Leintuch bahnten. “Ich dreh den Wecker schon ab”, meinte ihr Mann, der sie besorgt anstarrte. Obwohl der Wecker sie augenscheinlich aus einer Tiefschlafphase gerissen hatte und ihre Nachtruhe durch ihr Nicht-einschlafen-können verkürzt worden war, hatte sie dennoch gute Laune. Das Wochenende stand quasi vor der Tür und in wenigen Stunden konnte sie bereits ihre bestellte Belohnung in den Händen halten. “Ich hab heute von meiner neuen Kamera geträumt”, verkündete sie ihrem Mann. Dieser blickte seine Frau unzufrieden an und erwiderte: “Warum kannst du nicht stattdessen lieber von mir träumen?” Amelia überlegte kurz und meinte schließlich: “Naja, wenn es dir lieber ist, schlaf ich in Zukunft nicht neben dir und träume von der Kamera, sondern liege neben der Kamera und träume von dir.” Beide mussten herzhaft lachen. 


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