Das Auslandsjahr

Aus ca. 2005.

Es ist so weit. Du musst gehen, das Flugzeug wartet auf dich, um dich in ein neues Land zu bringen. Ein Land, in dem du noch nie zuvor gewesen bist. Deine Mutter und deine Großmutter haben dir von der Schönheit der Landschaft berichtet, doch du hast sie noch nie mit eigenen Augen gesehen, bald wirst du, ob du willst oder nicht. Du hast dich dafür entschieden, warum, weißt du selber nicht genau. Vielleicht weil du etwas Besonderes sein willst. Dass alle stolz sind auf dich, deswegen willst du dieses Auslandsjahr machen, damit du dein Englisch verbesserst, neue Leute kennen lernst und vor all deinen Problemen flüchten kannst. Es wird ein Neustart, keine Frage, aber du musst von allem Abschied nehmen, was du gewohnt bist und was dir lieb und teuer ist.

Du hast Angst, aber das macht nichts, das gehört dazu, sagen die Eltern. Es wird das beste Jahr deines Lebens, wirbt die Organisation. Worauf hast du dich da eigentlich eingelassen? Du könntest jetzt vor dem Fernseher in deiner gewohnten Umgebung sitzen, das wäre viel einfacher, aber auch viel langweiliger! Du willst Herausforderungen…. Du wirst auf dich allein gestellt sein und du musst lernen Verantwortung zu übernehmen. Deine Mami wird nicht da sein, um dir zu helfen, wenn du nicht mehr weiter weißt. Du wirst bei einer Gastfamilie leben, aber das ist nicht dasselbe. 

Du hast nicht mehr viel Zeit. Fast deine ganze Familie ist da, um dir viel Glück in Irland zu wünschen. Deine Eltern, deine Oma und deine Schwester, die dich sehr vermissen wird, denn sie hängt sehr an dir und du an ihr. Du kannst es nicht verkraften, als deine Oma dich mit verheulten Augen ansieht und dich umarmt. Du dachtest, du wärst stark, aber du hast dich getäuscht. Es fällt dir viel schwerer, als du es dir erwartet hast. Erst gestern bist du Österreichische Staatsmeisterin im Rudern geworden, aber das ist etwas anderes. Deine Eltern sind stolz auf dich, aber das reicht dir nicht. Du willst immer die Beste sein, deshalb hast du dich für dieses Auslandsjahr entschieden. Und doch? Ist es den Preis wert? Du must jetzt stark sein. Du wirst sie alle wiedersehen, das gibt dir Rückhalt. 

Du umarmst noch einmal alle, bekommst zum Abschied ein kleines Paket, beschließt es aber erst später zu öffnen, zeigst deinen Pass her und gehst mit Tränen in den Augen durch die Glastüre. Du winkst noch ein letztes Mal und gehst den langen Gang mit den grauen Fliesen entlang zum Gate B20. Du hast das kleine Päckchen in der Hand und zitterst. Jetzt bist du wirklich alleine, nur du, dein Päckchen, dein Rucksack und dein Ticket. Deine Schritte hallen, du kannst durch die vielen kleinen Fenster sehen, wie die Flugzeuge starten, und bekommst Angst. Seit vier Jahren bist du nicht mehr geflogen, damals warst du in New York, mit deinem Vater, jetzt bist du alleine.

Du musst warten, bis der Bus kommt, um dich zum Flugzeug zu bringen. Viele Gedanken schießen dir durch den Kopf. Mit Tränen in den Augen setzt du dich auf einen freien Sitz und starrst auf das kleine, mit rosa-blauem Geschenkpapier umwickelte Päckchen. Solltest du es jetzt schon öffnen? Du beschließt damit bis zum Abend zu warten, wenn du in deinem neuen Zuhause angekommen bist. Deine Eltern haben dir versprochen, dass sie noch am Flughafen bleiben, um dir beim Start zu winken. Du weißt nicht, wie alles sein wird.

Der Aufruf deines Fluges reißt dich aus deinen Gedanken. Du musst es als Chance sehen und Spaß haben, dich amüsieren und beweisen, dass du auch unabhängig sein kannst. Du gehst zur Tür, zeigst deinen Boardingpass her und steigst in den Bus. Du besteigst das Flugzeug, setzt dich auf deinen Platz und schläfst. Du träumst wirres Zeug, kannst dich aber später nicht mehr daran erinnern. Als du aufwachst, fliegst du gerade über das Meer, du bist kurz vor der Landung in Dublin und siehst die Küste, die immer näher kommt. Auf den grünen Wiesen kannst du viele Schafe erkennen und hast ein Lächeln auf den Lippen. 

Endlich bist du gelandet und gehst über die Gangway ins Flughafengebäude. Das Gepäck must du nicht abholen, weil du noch nach Galway weiterreist. Den Flug mit der kleinen Maschine hättest du dir lieber erspart. Doch zu spät. Du must dich anschnallen, die winzige Aer Aran Propellermaschine begibt sich in Startposition, beschleunigt und Sekunden später bist du in der Luft. Unruhig schiebt sich das kleine Flugzeug durch die Wolken. In einer halben Stunde wirst du deine neue Familie kennenlernen. Der Flug will und will nicht vergehen, genauso, wie eine Nacht nicht vergeht, in der du schlaflos im Bett liegst und dir unendliche Gedankenansammlungen durch den Kopf schießen. Du hast Angst! Wie sollst du dich verhalten, wie dich in die Familie einfügen? Wie wird die Schule sein? Du wirst vieles nachlernen müssen, aber das hast du von Beginn an gewusst.

Die Nebelschwaden werden dichter, das Flugzeug setzt zum Landeflug an. Von Galway kannst du nichts sehen. Es regnet, du landest! So einen kleinen Flughafen hast du noch nie zuvor gesehen. Am Flugzeug vorbei gehst du über den Flugplatz. Der Wind der Düsen bläst dir ins Gesicht. Es ist kalt und du bist froh, als du in die Halle zur Gepäcksabholung kommst. Du musst nicht lange auf deine Koffer warten, da nicht viele Passagiere Gepäck haben. Du ladest deine Koffer auf ein Wagerl und gehst zur Tür, die zur Ankunftshalle führt. Du stoppst! Hinter dieser Türe wartet deine Gastfamilie auf dich. Du must weiter, du hast keine andere Wahl. Du setzt den Wagen langsam in Bewegung, dein Herz schlägt sehr schnell, du gehst durch die Tür. Du siehst die ganze Familie dort stehen, deine Gasteltern und die vier Geschwister. Sie nehmen dich freundlich in Empfang und umarmen dich. Das ist also die Familie. Ihr geht gemeinsam zum Auto und fahrt nach Hause, vorbei an zahllosen Kuh- und Schaffeldern. Das Haus ist sehr groß und du hast dein eigenes Zimmer mit einem riesigen Fernseher. 

Nach dem Essen gehst du gleich in dein Zimmer. Der Tag war aufregend und etwas zu viel für dich, du hast so viel erlebt! Du setzt dich auf dein Bett und nimmst das Päckchen in die Hand, aus jener anderen Welt. Du öffnest die Schleife und entfernst die Tixostreifen. Ganz oben liegt ein Büchlein, das deine Schwester für dich gebastelt hat. Es ist ein Kalender vom Zeitpunkt deiner Abreise bis zu deiner geplanten Rückkehr. Die Omi hat dir Blätterteigkipferl – deine Lieblingsmehlspeise – gemacht, du hast sie dir so sehr gewunschen, wer weiß, wann du sie wieder bekommst? Von deiner Mami entdeckst du drei Karten mit Motivationssprüchen und einen Teddy mit deinem Namen. Und dein Papi hat dir eine Glücksmünze mitgeschickt. Du lachst und weinst gleichzeitig, verstaust all deine Geschenke auf dem Nachtkästchen, legst dich ins Bett und Sekunden später bist du im Traumland. Bilder von den Reiseerlebnissen mischen sich mit Vertrautem und Neuem und schwinden erst, als du am nächsten Morgen wider erwachst. 

Du siehst dich um, brauchst einige Zeit um zu begreifen, wo du jetzt bist. Die Umgebung ist ungewohnt ….. neu …..unerforscht …. Und siehe da:

Neugier erwacht in dir – und Lebensfreude!


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